sehepunkte 5 (2005), Nr. 5

Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit

In den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeigte die Aufklärung in Verbindung mit der Naturrechtslehre Auswirkung auf die Gestaltung des Strafrechts. Die Infragestellung des herkömmlichen Strafzwecks der Vergeltung schlug sich neben anderen aufgeworfenen Fragen wie der Verhütung von Verbrechen, der Anpassung der Strafe an die "Natur des Verbrechens" (Montesquieu) und der Willensfreiheit bei seiner Begehung in einer zunehmenden Veröffentlichung von so genannten "criminalpsychologischen" Schriften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nieder. Gemeinsam war diesen Abhandlungen, dass sie den Blick von der Tat auf den Täter lenkten und, daraus resultierend, in die Forderung nach einer Individualisierung und Psychologisierung des Strafrechts mündeten. Dabei ging es nicht zuletzt um den Versuch, die Ursachen von Verbrechen zu verstehen, Voraussetzungen festzulegen, unter denen das Strafrecht angewandt werden sollte, und Regeln festzulegen, die die Verhängung individuell angemessener Strafen erlaubten. Mit anderen Worten: Ziel war eine Modernisierung des Strafrechts.

Die "Criminalpsychologie" war keine eigenständige Disziplin, sie schöpfte vielmehr aus der Psychologie, Philosophie, Psychiatrie und "Gerichtlichen Arzneywissenschaft". Der Fokus der vorliegenden Dissertation von Ylva Greve liegt zwar auf der Rechtsgeschichte, dennoch werden die genannten Wissenschaften in ihrer Beziehung zur Criminalpsychologie ausführlich dargestellt. Als Quellen dienten der Autorin gedruckte juristische, philosophische, psychologische, psychiatrische und gerichtsmedizinische Schriften aus dem Zeitraum 1780 bis 1850.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: 1. Entstehungsbedingungen der Criminalpsychologie, 2. Inhalte und praktische Anwendung der Criminalpsychologie und 3. Auswirkungen der Criminalpsychologie auf die Strafgesetzgebung. Im ersten, einführenden Teil wird der Wandel in der Strafrechtswissenschaft umrissen, gefolgt von einer Darstellung der Fundamente der Criminalpsychologie: der Psychologie in Gestalt der "Erfahrungsseelenlehre" und der empirischen Psychologie, der Psychiatrie sowie der "Gerichtlichen Arzneywissenschaft".

Der Hauptteil der Arbeit, der sich mit den Inhalten und praktischen Anwendungsbereichen der Criminalpsychologie befasst, gliedert sich in sieben Kapitel. Er beginnt mit einer Beschreibung der Konturenbildung und des Konzepts der Criminalpsychologie anhand der Schriften von Karl von Eckartshausen (1753-1802), Johann Gottlieb Münch (1774-1837) und Johann Christian Gottlieb Schaumann (1786-1821). Es folgt eine kurze Skizze der Ausbreitung, der inhaltlichen Schwerpunkte sowie der Methoden und Ziele. Im Anschluss daran werden der Verbrechensbegriff und die Erklärung des Verbrechens aus criminalpsychologischer Sicht dargestellt.

Für den Verbrechensbegriff waren fünf Merkmale konstituierend: 1. der tatsächliche Schaden für die Gesellschaft, 2. die Abgrenzung der Verbrechen gegenüber religiösen, moralischen und sittlichen Vergehen sowie das Vorliegen der Vorsätzlichkeit, 3. die Verletzung individueller Rechte, 4. der Verstoß gegen ein zum Zeitpunkt der Tat bereits bestehendes Gesetz und 5. die Willensfreiheit bei der Begehung der Tat. Bei der Erklärung des Verbrechens gingen die Meinungen der Criminalpsychologen durchaus unterschiedliche Wege, vor allem wenn der Grund für die Tat in der Psyche des Täters vermutet wurde. Es wurden allerdings auch äußere Ursachen für die Begehung eines Verbrechens herangezogen, insbesondere Armut, schlechte Erziehung sowie fehlende Bildung, womit die Frage einer gesellschaftlichen Mitschuld in die Diskussion eingebracht wurde. Konstitutiv für die Erklärung des Verbrechens war der freie Wille des Täters. In diese Überlegungen fanden vor allem Erkenntnisse der Psychiatrie Eingang, es konnten aber auch körperliche Erkrankungen zur Erklärung einer unfreiwillig verübten Tat herangezogen werden.

Das nächste Kapitel setzt sich mit der Strafe und dem Strafzweck auseinander, beginnend mit der Legitimation staatlichen Strafens, gefolgt von Veränderungen in den Strafrechtstheorien vor allem hinsichtlich der Strafzwecke Vergeltung, Prävention und Besserung bis zur crimiminalpsychologischen Beurteilung der Strafarten. In der Diskussion über die Todesstrafe stand nicht so sehr ihre Rechtmäßigkeit im Zentrum als vielmehr die Frage, ob durch ihre Androhung potenzielle Täter abgehalten werden könnten. Daraus entwickelte sich die Überlegung, dass sich die Art der Strafe nicht mehr in erster Linie an der Tat ausrichten sollte, sondern an dem Täter mit dem Ziel der individuellen Besserung. Resultat dieser Ausrichtung war eine Präferenz für Freiheits- und Arbeitsstrafen.

Im anschließenden Kapitel geht es um die Zurechnung als Grundelement strafrechtlicher Verantwortung. Auf eine kurze Skizze der Zurechnungslehre im 19. Jahrhundert folgt die Darstellung der Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit, die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts begrifflich noch nicht getrennt wurden. Auch bei der Diskussion über Prinzip und Voraussetzung rechtlicher Zurechnung kam es zu einer langsamen Öffnung der Strafrechtswissenschaft hinsichtlich einer Psychologisierung der Strafrechtstheorie, die sich von dem Primat der Vernunftherrschaft löste und auch die Wahrnehmung des Menschen als "Sinnenwesen" zuließ. Daraus ergab sich die Frage, ob es unterschiedliche "Grade der Zurechnung" gab, aus denen sich "Mittelstufen der Verantwortung" ableiten ließen.

Da die Zurechnungsfähigkeit zur Grundvoraussetzung einer Strafbarkeit wurde, entwickelten Criminalpsychologen eigene Theorien, die unter anderem aus der unterschiedlichen Auffassung über den Strafzweck resultierten. Auch hier war die Frage der Willensfreiheit konstitutiv. Darüber hinaus stellten Criminalpsychologen so genannte "Fallgruppen der Unzurechnungsfähigkeit" zusammen, die die Zurechnungsfähigkeit sehr stark beeinflussen konnten. Dazu gehörten beispielsweise sehr hohes beziehungsweise jugendliches Alter, Geisteskrankheit, Taubstummheit, Schlafwandeln, Alkohol sowie vorübergehende Störungen des Vernunftgebrauchs.

Die Bedeutung der criminalpsychologischen Zurechnungslehre in der Strafrechtspraxis wird in einem eigenen Kapitel behandelt, der Hauptteil schließt mit einem Kapitel über die Bestimmung des Strafmaßes nach criminalpsychologischen Gesichtspunkten (Strafzumessung, -verschärfung, -milderung und -verwandlung). Im dritten Teil des Buches werden schließlich die Forderungen der Criminalpsychologen an Gesetzgeber und Richter sowie Zurechnungsfähigkeit und Strafmaß in den Strafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts dargestellt.

Insgesamt gesehen bietet die Arbeit einen guten Überblick über die Entwicklung der frühen Criminalpsychologie. Inwiefern die Grundzüge der Criminalpsychologie tatsächlich Eingang in die richterliche Praxis gefunden haben, darüber finden sich leider nur sehr spärliche Hinweise. Bedauerlich sind häufige, zum Teil ermüdende Wiederholungen. Die Zitate aus den Quellen hätten sehr viel öfter paraphrasiert werden können, auch wenn die Autorin meint, es sei wichtig, "die 'Criminalpsychologie' als Quellengattung ins historische Bewusstsein" holen zu müssen. Das alles schmälert den Lesefluss. Es ist zudem schade, dass sich die Autorin nicht in dem breiteren Forschungskontext der Historischen Kriminalitätsforschung verortet hat. Eventuell rührt daher auch die Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht. Trotz dieser Kritikpunkte ist die Arbeit zu empfehlen, da sie einen guten Einblick in die Vorgeschichte der Kriminologie bietet, der auch für die Medizin-, Psychiatrie-, Psychologie- und Ideengeschichte einen substanziellen Beitrag leisten kann.

Rezension über:

Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der 'Criminalpsychologie' im 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XI + 463 S., ISBN 978-3-412-06404-4, EUR 49,90

Rezension von:
Sylvelyn Hähner-Rombach
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Empfohlene Zitierweise:
Sylvelyn Hähner-Rombach: Rezension von: Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der 'Criminalpsychologie' im 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/05/7247.html


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