Rezension über:

Johannes Ludwig Schipmann: Politische Kommunikation in der Hanse (1550-1621). Hansetage und westfälische Städte (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Neue Folge; Bd. LV), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, IX + 335 S., ISBN 978-3-412-11704-7, EUR 37,90
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Rezension von:
Bernward Fahlbusch
Warendorf
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Bernward Fahlbusch: Rezension von: Johannes Ludwig Schipmann: Politische Kommunikation in der Hanse (1550-1621). Hansetage und westfälische Städte, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/6399.html


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Johannes Ludwig Schipmann: Politische Kommunikation in der Hanse (1550-1621)

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Die Stadtarchive von Münster und Soest, zudem auch das Historische Archiv der Stadt Köln, verfügen für die Zeit von 1550 bis 1620 über nennenswerte Bestände zur Hansegeschichte. Diese sind bekannt, aber keineswegs ausgenutzt und, abgesehen von einzelnen Stücken, nicht ediert. Die Forderung, diese Bestände systematisch zu nutzen, besteht seit Langem, und jetzt ist ihr endlich jemand nachgekommen.

Die Überschrift dieser Münsterer Dissertation von 2001 vermag allerdings falsche Erwartungen zu wecken, und wer sich nicht deutlich vergegenwärtigt, welche Untersuchungsfrage der Verfasser behandelt, mag auch enttäuscht werden: Nicht darüber, welche Inhalte mit welchen Ergebnissen und Folgen von wem verhandelt worden sind, handelt die Arbeit, sondern darüber, wie der auf Konsensfindung ausgerichtete Verhandlungsgang sich darstellt, sodass sowohl "die Konsensfindung zwischen diesen westfälischen Hansestädten [...,] als auch die Interdependenzen und Interaktionen zwischen der Gesamthanse und der regionalen hansischen Untergliederung" (3) untersucht werden. Die Inhalte werden nur marginal erwähnt, soweit das unvermeidlich erscheint.

Der erste Teil rekonstruiert minuziös politische Kommunikation, Konsens- und Entscheidungsfindung auf Hanse- und Kölner Quartierstagen in der Zeit von 1550 bis 1621, wobei das Übergehen der wichtigen Tage von 1549 nicht einsehbar ist. Als Ergebnis liegt eine stringente Gesamtdarstellung der Verhandlungsformen und -abläufe, vor allem der Ergebniserzielung, vor. Ohne Mehrheitsprinzip wird durch ein aufwändiges Umfrage- und Vergleichungsverfahren und unter Beachtung der "Präeminenz" der wichtigeren Städte versucht, Konflikte zu vermeiden oder zu lösen sowie konsensual Entscheidungen zu finden. Der Ablauf der Tage, von der Einladung über die Instruktion, die Anreise, den Empfang, den Einzug zur Beratung bis zur Verabschiedung der Gesandten, die Sitzordnungen, die Protokollausfertigung, die Bildung von Ausschüssen und Gesandtschaften werden auf der Basis der erhaltenen Quellen verlässlich rekonstruiert und systematisch dargestellt: Ein bestimmtes, abstrahierbares Verlaufsschema wird deutlich. Die Arbeit bestätigt und präzisiert im Détail das Wissen um die "strukturlogische" Seite der Verhandlungen und stellt eine sichere Grundlage für ein Hauptergebnis dar: Die hansischen Kommunikationsformen entsprechen zur Gänze den üblichen dieser Zeit, und "Entscheidungsdefizite der politischen Organe der Hanse" (1) können nicht Ursache für den behaupteten Niedergang im 16. Jahrhundert sein. Die Exekution im Konsens gefundener Entscheidungen allerdings stellt ein wirkliches Problem des Verbandes dar.

Im zweiten Teil gerät diese Exekutions- zusammen mit der Informationsfrage verstärkt in den Vordergrund. Der Verfasser rekonstruiert das vielschichtige Meinungsbildungsverfahren vor und nach Drittels- und Hansetagen in Westfalen. Er orientiert sich an den territorial bestimmten (Unter-)Quartieren. Die benutzte Terminologie wird allerdings nicht hinterfragt. Dabei setzt die Arbeit originär hansische Strukturen auf westfälischer und territorialer Ebene voraus: Der "mediate" Hansecharakter der kleinen Städte gerät etwas außer Acht. Innerhalb der Territorialquartiere stellt der Verfasser entsprechend den unterschiedlichen politisch-organisatorischen Gegebenheiten verschiedene Kommunikationsformen fest, aber die so genannten kleinen Städte sind durchgängig, wenn auch unter Beachtung des Präeminenz-Prinzips in Information, Meinungsbildung und Exekutionsbemühungen einbezogen gewesen. Allerdings kann man diesen Sachverhalt auch anders formulieren: Die kleinen Städte haben keine Chance gehabt, das Außenvertretungsmonopol des jeweiligen Territorialvororts wirklich in der Sache zu beeinflussen. Im Kern belegen die Ausführungen eine Führungsrolle Münsters für alle Städte Westfalens in dieser Zeit. Trotz häufigen und berechtigten Hinweisen auf landständische Formen wird diesen allerdings zu wenig Gewicht beigemessen. Ganz besonders herauszustellen sind die (aus Fremdüberlieferung rekonstruierten) Ausführungen über die Grafschaft Mark (besonders Hamm, Unna), die einen erheblichen Fortschritt gegenüber dem bisherigen Kenntnisstand darstellen. Die Tagungen der westfälischen Prinzipalstädte werden leider nur im Rahmen der Territorialkapitel jeweils aus der Sicht des Vorortes, nicht aber systematisch dargestellt; im Falle Münsters fehlt dies sogar.

Im Verlaufe der Arbeit hat es sich glücklicherweise immer mehr als unmöglich erwiesen, den Verlauf der Konsensfindungen losgelöst von den Verhandlungsgegenständen darzustellen, sodass man durchaus in hoher Dichte darüber informiert wird, was denn die westfälischen Hansestädte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem umtrieb: Es waren die Vorgänge um das Kontor in Antwerpen einerseits und andererseits die aus den Reorganisationsbemühungen des Verbandes resultierenden Taxzahlungen.

Die Konflikte Soests mit dem Verband dokumentieren als Beispielsfall dann im dritten Teil (233-295) ein gestuftes Verfahren von Konflikteskalation und -schlichtung, das zudem die bereits vorher behandelte Sonderrolle Soests (Stadtherrnwechsel) ebenso eindrucksvoll wie die Zwiespältigkeit im Verhalten führender Kaufleutepolitiker unterstreicht. War der Soester Rat schon unzufrieden mit den neuen Regelungen der Taxation und der Ausschreibungsordnung von 1556/57, so eskalierte der Konflikt wegen der Antwerpener Schossordnung, an die sich der dortige Faktor des Soester Bürgermeisters Goswin Michels (gestorben 1572), ein in den Quellen als "Vetter" bezeichneter Verwandter namens Gerd Michels, nicht hielt: Kontor, Kölner Rat, Drittels- und Hansetag waren mit der Auseinandersetzung befasst, Wesel übernahm die Rolle eines Vermittlers, die wichtige Gesandtschaft 1563 nach Antwerpen schaltete sich ein, und 1566/67 konnte ein Ausgleich erzielt werden. An Goswin Michels wird sein persönlicher Konflikt zwischen privatem Profitinteresse und öffentlichem Wohl der Stadt Soest, das er als führender Außenvertreter der Bördestadt zu wahren hatte, eindrucksvoll deutlich, aber auch die prekäre Lage Soests zwischen den hansischen Forderungen und den Interessen eines verdienten Mitbürgers.

Da die Antwerpener Schossordnung allerdings auch von anderen Hansen, namentlich vom Kölner und Danziger Rat, abgelehnt und zugleich der Hausneubau in Antwerpen in Szene gesetzt wurde, fokussieren sich in diesem Fall die verschiedenen, sich überlagernden, teils auch verwirrenden Konfliktlinien innerhalb des Verbandes. Sie zu ordnen und konzinn zu verdeutlichen und solcherart ein instruktives Beispiel zu schaffen, ist ein unbestreitbares Verdienst dieser Arbeit.

Die auf intensiver und sauberer Archivarbeit beruhende Darstellung stellt trotz ihrer eingeschränkten Untersuchungsabsicht einen erheblichen Fortschritt der hansischen Historiografie allgemein und der über Westfalen im Besonderen dar. Vor allem kann die Forschung nun sicher Umfang und Aussagefähigkeit der Archivbestände in Münster und Soest abschätzen - und der Verfasser hat seine Fragestellung erschöpfend und überzeugend beantworten können. Zugleich untermauert die Arbeit die zentrale Bedeutung Heinrich Sudermanns; zugleich finden sich deutliche Hinweise auf ein "Hansebewusstsein" auch in den kleinen Städten; zugleich wird deren nur reagierende Position gegenüber den Vororten deutlich.

Der Verfasser räumt selber ein, dass informelle Vorgänge nicht erfasst worden sind (102); sehr knapp sind die prosopografischen Hinweise auf die Handlungsträger (im Falle Münster fehlen sogar die Namen); viele offene Fragen ließen sich aus stadt- und regionalgeschichtlicher Sicht beantworten, woraus sich auch eine Grundlage für die qualitative Bewertung von Maß und Bedeutung des Sektors "Hanse" im Gesamtfeld städtischer Außenbeziehungen ergäbe. Die kritische Auseinandersetzung mit der vorliegenden Forschung ist ausgeblieben; die unscharfe Trennlinie zwischen hansischen und älteren territorialen, teilweise eben identischen Kommunikationsformen ist weiterhin vorhanden, und zu sehr ist die Arbeit insgesamt dem von Winterfeld'schen Modell einer gestuften, originär hansischen Organisation verhaftet, sodass der überholten "Theorie vom hansischen Unterquartier" eher Nahrung gegeben denn Einhalt geboten wurde.

Der Verfasser hat völlig Recht, wenn er mehrfach und nachvollziehbar die Überbetonung der mittelalterlichen Hansegeschichte gegenüber der des 16./17. Jahrhunderts beklagt, wobei er hier allerdings die Fortschritte der jüngeren Forschung ungerechtfertigt kleinstuft und selber die Grenze ins Spätmittelalter nicht bezwingt: Gerade der Vergleich seiner trefflichen Ergebnisse im ersten Teil mit dem Wissen über den Hansetag im 15. Jahrhundert wird aufschlussreich sein und eine Neubewertung von Sinn und Erfolg der so genannten Reorganisationsbemühungen ab dem Hansetag von 1549 ermöglichen.

Bernward Fahlbusch