sehepunkte 4 (2004), Nr. 10

Sergej Shurawljow: "Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion"

Zu Beginn der 1930er Jahre durchlebten Deutschland und die Sowjetunion parallele Krisen: Während die strukturell anfällige deutsche Wirtschaft nach dem Schwarzen Freitag eine dramatische Talfahrt absolvierte und die in ungeahnte Höhen steigenden Arbeitslosenzahlen die labile erste deutsche Demokratie zusätzlich politisch belasteten, wurde die Sowjetunion von der stalinistischen Führung in eine kombinierte industrielle und agrarische Revolution gezwungen, um zu den westlichen Industrienationen aufzurücken. Eine Folge dieser Koinzidenz war die einzige West-Ost-Migrationswelle, die die Sowjetunion jemals erlebt hat - wenngleich sie sich selbst auf ihrem Höhepunkt in den Jahren 1932/33 mit insgesamt etwa 35.000 in der Sowjetunion lebenden westlichen Arbeitsimmigranten auf einem recht niedrigen Niveau bewegte.

Der russische Historiker Sergej Shurawljow hat sich vorgenommen, die aus dieser Konstellation entstandenen Quellen zu nutzen, um das Leben im Stalinismus gewissermaßen von "aussen" und "innen" zugleich, nämlich durch die Augen der westlichen Arbeitsimmigranten zu betrachten: In einer Fallstudie über die ausländischen Arbeiter des Moskauer Elektrokombinates will er erkunden, wie diese Menschen auf die für sie ungewohnten Bedingungen im Stalinismus reagierten und inwieweit sie sich ihnen anpassten.

Auf dieser Basis schreibt Shurawljow nebenbei eine Kurzfassung der Geschichte der Ausländerbeschäftigung in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit - beginnend mit der uneigennützigen (und recht umfangreichen) Werksspionage deutscher Kommunisten in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, über die massenhafte Anwerbung ausländischer Facharbeiter zu Beginn des ersten Fünfjahrplanes Ende der 1920-er bis zur ebenso massenhaften Rückwanderung in der ersten Hälfte der 1930-er Jahre und zum Terror gegen die in der Sowjetunion verbliebenen Ausländer.

Einen Schwerpunkt bildet der Umgang der sowjetischen Arbeitgeber mit den ausländischen Facharbeitern, die zunächst mit attraktiven Verträgen auf die Großbaustellen des Sozialismus gelockt wurden. Zum Entsetzen vieler deutscher Kommunisten wurde das Handeln der Sowjets jedoch zunehmend durch sehr kapitalistische Grundsätze geprägt: Das mit der Wirtschaftskrise steigende Angebot an westlichen Arbeitskräften wurde genutzt, um die Lohnkosten drastisch zu senken. Die ursprünglichen Vergünstigungen für die ausländischen Facharbeiter wie die Entlohnung in Valuta waren dabei vielen sowjetischen Parteifunktionären seit jeher ein Dorn im Auge gewesen, erregten sie doch den Neid der russischen Arbeiter. Spätestens nach Abschaffung dieser Privilegien begannen sich hingegen selbst die idealistisch gesinnten Kommunisten unter den Ausländern zu fragen, wie sie unter den veränderten Umständen ihre Familien ernähren sollten: "Ich trete gerne wieder in Eure Dienste", begründete Anfang 1931 das KPD-Mitglied Willi Brüß in einem Brief seine Kündigung im Elektrokombinat, "sobald Eure Valuta-Schwierigkeiten behoben sind." Abschließend versicherte er, dass er "nach wie vor die größten Sympathien für Sowjetrussland hege" (74 f.). Das traf allerdings auf immer weniger deutsche Arbeitsimmigranten zu. Die wenigen Arbeiter, die blieben, taten dies entweder, weil sie in Deutschland keine berufliche Perspektive hatten, oder sich als prominente Kommunisten ebenso wie die nun verstärkt eintreffenden "Politemigranten" vor dem Zugriff der Gestapo fürchteten. Ausführlich schildert Shurawljow, wie die verbliebenen Arbeitsimmigranten zunehmend in das Visier der sowjetischen Partei- und Geheimdienstorgane gerieten und schließlich zu einem Großteil den politischen Repressionen des "Großen Terrors" zum Opfer fielen. Entsprechend der stalinistischen Spionagephobie wurden nun selbst diejenigen als "Volksfeinde" verdächtigt, die sich stets für den Aufbau des Sozialismus engagiert und weitgehend ihrer neuen Umwelt angepasst hatten. Der Ehefrau des vom NKWD verhafteten deutschen Kommunisten Willi Koch wurde 1938 in einer Parteiversammlung auf ihren Einwand hin, dass dieser doch fast alle Maschinen seines Betriebes konstruiert habe und diese immer noch zuverlässig arbeiteten, entgegnet: "Siehst du, alle unsere Feinde werden sich immer darum bemühen, gute Produktionsarbeiter zu sein und gut in der Öffentlichkeit dazustehen, um sich besser zu tarnen" (132).

Zwar werfen solche von Shurawljow immer wieder aufgenommenen Biografien wie die von Willi Koch mitunter beeindruckende Schlaglichter auf das wechselhafte Verhältnis zwischen der russischen Gesellschaft, den sowjetischen Parteiorganen und den ausländischen Arbeitern, doch lässt sich der Autor insgesamt zu sehr von seinen Archivfunden die Feder führen. Seine "mikrohistorische" Methodik erschöpft sich darüber hinaus zuweilen in einer überaus ausgeprägten Lust an seitenlangen Zitaten (zum Beispiel 92 - 94, 131 - 133) und endet immer wieder in oberflächlicher Deskription.

Den deutschen Verlag wird dies wenig gestört haben, zeugt doch die Tatsache, dass die im Jahre 2000 erschienene russische Originalausgabe [1] für die Übersetzung um mehr als die Hälfte gekürzt wurde, von der Absicht, die Leserschaft nicht zu überfordern oder mit einem wissenschaftlichen Apparat zu belästigen (allerdings verschwanden bei der Übersetzung nicht nur die meisten Fußnoten und das gesamte Literaturverzeichnis, es ging durch rätselhafte Umstellungen, bei denen ganze Abschnitte auseinander gerissen wurden, streckenweise auch der rote Faden völlig verloren).

Eine "dichte Beschreibung" des Alltagslebens der Arbeitsimmigranten hätte beispielsweise erfordert, die Hintergründe der Konflikte zwischen russischen Arbeitern und ausländischen "Neuerern" im Elektrokombinat eingehender zu analysieren, anstatt diese lediglich anhand von Schiedsgerichtsakten nachzuerzählen. Nach der Lektüre bleibt daher weitgehend unklar, warum die Vorschläge der oft hochmotivierten ausländischen Arbeiter zur Verbesserung der Produktion von ihren sowjetischen Kollegen nicht umgesetzt wurden. Die von Shurawljow aufgezählten Gründe wie "Desinteresse" und "'Schlamperei'" der Russen (40) sind keine Antworten, sondern werfen eher neue Fragen auf: Wieso waren die Russen denn "desinteressiert"?

Auch die Probleme des Zusammenlebens von Russen und Deutschen in den Werkswohnungen des Elektrokombinates werden kaum problematisiert. Das entsprechende Kapitel zitiert eine Reihe von Beschwerdebriefen der deutscher Arbeiter, doch erfahren wir wenig über die sozialen Alltagskonflikte und deren Ursachen; nur über die Baumängel der neuen Wohnheime wird ausführlich berichtet. Dass sich der Deutsche Albert Medrow im September 1931 nebenbei in einem Schreiben an die Werksleitung über seine russischen Mitbewohner mit den Worten beklagte "und außerdem spucken alle auf den Boden" (82), hätte ein Ausgangspunkt sein können, den unterschiedlichen Lebensweisen nachzugehen, die hier zusammenprallten: Schließlich trafen die deutschen Facharbeiter im Moskau des ersten Fünfjahrplanes überwiegend auf ehemalige Bauern, die in der sowjetischen Hauptstadt eine neue Existenz suchten, aber noch weitgehend von ihrem Leben auf dem Lande geprägt waren. [2] In den Alltagskonflikten zwischen Russen und Deutschen scheinen insofern häufig "Modernisierungs"-Probleme zum Ausdruck gekommen zu sein. Und anders als Shurawljow meint, waren es weniger die ausländischen Arbeiter, die Schwierigkeiten hatten, sich dem stalinistischen Ideal des "Neuen Menschen" anzupassen, als vielmehr die russischen Bauernsöhne. Dies zeigt sich noch deutlicher, wenn man einen Blick auf die Situation in anderen Betrieben wirft. Völlig frustriert berichtete beispielsweise Ende 1930 die deutsche Parteizelle des Bergwerkes Amerikanka der KPD-Vertretung in Moskau, dass die Verwaltung des Schachtes den Hinweis auf den unsachgemäßen Umgang mit den teuren Apparaturen mit der Bemerkung gekontert habe, dass "der russische Arbeiter zum großen Teil noch ein Feind der Maschine sei". Doch anstatt die Ratschläge der Deutschen anzunehmen, lasse die Verwaltung die Bergleute einfach mit der Spitzhacke weiterarbeiten. [3]

Indem Shurawljow derartige Probleme nicht oder nur am Rande behandelt, vergibt er wesentliche Möglichkeiten, die sein Thema bietet. Anstatt die gegenseitigen Wahrnehmungen von Russen und Deutschen zu untersuchen, konzentriert er sich darauf, die deutschen Arbeiter als Opfer des Stalinismus zu beschreiben. Das waren sie ohne Zweifel - doch was Shurawljow über das "Schicksal" der ausländischen Fachkräfte während des "Großen Terrors" mitzuteilen hat, unterscheidet sich kaum von dem, was in der Forschung über andere Opfergruppen bekannt ist.


Anmerkungen:

[1] Sergej Zhuravlev, "Malen'kie ljudi" i "bol'shaja istorija". Inostrancy moskovskogo Élektrozavoda v sovetskom obshzhestve 1920-1930-kh gg, Moskau 2000.

[2] Vgl. David L. Hoffmann, Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929-1941, Ithaca 1994 (vor allem Kapitel 6).

[3] Bericht der deutschen Parteizelle des Schachtes Stalina des Bergwerkes Amerikanka an die Vertretung der KPD bei der Komintern vom 22.12.1930 (RGASPI 495/293/116: 55).

Rezension über:

Sergej Shurawljow: "Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion". Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann. Redaktionelle Fachberatung Wladislaw Hedeler, Berlin: Ch. Links Verlag 2003, 189 S., ISBN 978-3-86153-275-0, EUR 22,90

Rezension von:
Bert Hoppe
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bert Hoppe: Rezension von: Sergej Shurawljow: "Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion". Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 30er Jahre. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann. Redaktionelle Fachberatung Wladislaw Hedeler, Berlin: Ch. Links Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/10/4770.html


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