Rezension über:

Bettina Emmerich: Geiz und Gerechtigkeit. Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; 168), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 334 S., ISBN 978-3-515-08041-5, EUR 68,00
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Rezension von:
Brigitte Kasten
Historisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Brigitte Kasten: Rezension von: Bettina Emmerich: Geiz und Gerechtigkeit. Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/5952.html


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Bettina Emmerich: Geiz und Gerechtigkeit

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Die Frankfurter, am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte begonnene und von Johannes Fried begutachtete Dissertation unternimmt es, das ökonomische Denken im frühen Mittelalter in Form einer Synthese darzustellen. Geiz und Gerechtigkeit sind dabei die Parameter, innerhalb derer sich dieses Denken in Rechtstexten sowie hagio- und historiografischen Quellen artikulierte. Bettina Emmerich behandelt diese Thematik in drei Schritten. Einleitend kontrastiert sie die moderne Wirtschaftstheorie mit dem gegenteiligen, dem im Frühmittelalter geforderten distributiven, uneigennützigen Verhalten und erhebt dieses zum Arbeitsbegriff für ihre Untersuchung des wirtschaftlichen Denkens. Unter dieser Prämisse sieht sie sich in der Lage, Fragen von Produktion, Handel und Verteilung, Verausgabung und Thesaurierung, ausgenommen der Quantifizierung, zu eruieren. Danach beschäftigt sie sich mit den eigenen Konzepten der behandelten Epoche zu wirtschaftlichem Handeln und Denken am Beispiel der Hausmetapher, die von Otto Gerhard Oexle und seinem Schüler Ulrich Meyer angestoßen wurden, und der Statuten Abt Adalhards für das Kloster Corbie an der Somme von 822, anknüpfend unter anderem an eine Studie Ludolf Kuchenbuchs zur Arithmetik dieser Schrift. Diese in ihrer Form singuläre und bedeutende Schrift leitet darüber hinausgehend zu dem eigentlichen Hauptteil der Arbeit über die realen Manifestationen wirtschaftlichen Denkens im Marktgeschehen und bei der Festsetzung von Münzen, Maßen und Gewichten über. Aus dem frühmittelalterlichen Anliegen, Geiz und Habsucht zu verhindern, die Almosengaben zu befördern, den gerechten Preis, das rechte Maß und rechtmäßige Gewicht zu ermitteln, filtert die Autorin drei konstitutive Elemente des Wirtschaftsdenken heraus: "Austauschgerechtigkeit, Vertragsgerechtigkeit und Fürsorgepflicht" (282). Für die Verwirklichung dessen sei immer wieder der Herrscher verantwortlich gemacht worden.

Die Autorin betreibt eine immanent transdisziplinäre Studie, die sowohl einem wirtschafts- als auch einem ideengeschichtlichen Ansatz unterliegt. Sie untersucht die Austausch- und Vertragsgerechtigkeit nicht allein unter ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auch im Hinblick auf die theologische Zielgerichtetheit sozialen Denkens im Mittelalter. Bei der Festsetzung der rechten Maße sei es daher neben der Regulierung des Marktes auch um die Erforschung der Welt als Ermittlung der ewig gültigen, göttlichen Maße, der "norma", gegangen. Die gesamten wirtschaftlichen Bemühungen eines Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Karls des Kahlen seien neben den handgreiflichen wirtschaftlichen Absichten auch der herrscherlichen Verpflichtung zur "correctio" des sündigen Menschen verbunden gewesen. "Norma rectitudinis" und "correctio" mitsamt des damit korrelierenden Vereinheitlichungskonzepts waren die Leitwörter der so genannten karolingischen Renaissance, wie einst Percy Ernst Schramm feststellte. Tatsächlich liegt der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit auf den Jahren zwischen rund 780 und 830, die sich wegen der herrscherlichen Kapitularien und der klösterlichen Urbare besonders gut für wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen eignen.

Dieser doppelte Ansatz macht die Studie hochinteressant, zumal die flüssige Diktion eine anregende und kurzweilige Lektüre ermöglicht. Gelegentlich weist diese Stärke jedoch auch leichte Schwächen auf. Es wirkt teilweise aufgesetzt, wenn die Autorin mitten in sehr konkreten, gut nachvollziehbaren Analysen von Maßverhältnissen fragt, ob "wir es hier mit einer Umwertung der Gegenstände, einer Neuordnung der Dinge - hier der Lebensmittel - im ökonomischen Weltbild der Karolinger zu tun [haben]" (128), um wenig später zu konstatieren: "In diesem Klima der abstrakten Aneignung von Umwelt durch Beschreibung und Normierung greifbarer Wirklichkeit werden Ziffern zu bedeutungstragenden Attributen" (137). Es wäre vielmehr zu hinterfragen, ob es ein solches "ökonomisches Weltbild" gab und ob die Absicht bestand, "Kommunikation über Geld einem genauen Ritual zu unterwerfen" (137). Die Einsicht der Autorin in die politischen Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns in der von ihr untersuchten Zeitepoche ist hin und wieder von Unsicherheiten gekennzeichnet, die teilweise auf falschen Übersetzungen beruhen. So kann man das "Capitulare de villis" kaum ernsthaft als "Reichsgüterordnung" (157) bezeichnen. Im "Capitulare missorum Niumagae" von 806 (c. 18) wurde, anders als die Autorin meint, angeordnet, dass die Benefizieninhaber bei Hungersnöten die "familiae" der Benefizien aus diesen Gütern und die "familiae" ihrer Eigengüter aus ebendiesen Alloden versorgen, die Besitzungen unterschiedlichen Rechtsstatus also auch wirtschaftlich voneinander geschieden bleiben sollten, sicherlich eine Schutzmaßnahme zu Gunsten der Benefizien und ihrer Bauern. Es ist an dieser Stelle auch nicht von den Vasallen der Bischöfe, Äbte, Beamten (sic!) und Grafen, sondern von allen Benefizieninhabern generell die Rede, die ein königliches Benefizium aus Kirchengut oder anderer Provenienz innehatten. In diesem Zusammenhang folgt die Verfasserin der These vom Wirtschaftsdirigismus der Karolinger (Adriaan Verhulst und andere), wonach alle wirtschaftlichen Maßnahmen auf herrscherliche Verordnungen zurückzuführen seien, ohne sich mit abweichenden Auffassungen über einen wirtschaftlichen Pluralismus auseinanderzusetzen. Diese unhinterfragte Grundannahme fließt nachfolgend häufig in ihre Beurteilung der Quellen ein.

Ungeachtet dessen handelt es sich bei dieser Arbeit um eine höchst verdienstvolle Studie zum vornehmlich karolingerzeitlichen ökonomischen Denken, das man zukünftig sicherlich nicht mehr beweisen muss. Viele neue Detailbeobachtungen und vor allem der hergestellte Konnex zwischen den Kurzinformationen aus den vereinzelten Quellen, nicht zuletzt auch das umfängliche, die allerneuesten Werke (McCormick) berücksichtigende Literaturverzeichnis empfehlen diese Dissertation allen denjenigen zur Anschaffung, die sowohl an den "harten" wirtschaftsgeschichtlichen Faktoren als auch an ideengeschichtlichen Fragestellungen interessiert sind.

Brigitte Kasten