sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8

Peter Blickle / Andreas Schmauder (Hgg.): Die Mediatisierung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext

Der vorliegende Sammelband thematisiert die nun 200 Jahre zurückliegende Umgestaltung der politischen Landschaft von der Wende des Alten Reiches hin zu den entstehenden Nationalstaaten des beginnenden 19. Jahrhunderts. Oberschwaben scheint für diese Fragestellung eine Region Deutschlands zu sein, auf die sich paradigmatische Fragestellungen vor dem Hintergrund der zahlreichen Mediatisierungen anwenden lassen; weiterhin lassen sich durch die Einbettung in den kulturgeschichtlichen Hintergrund Europas Konstellationen eines länger anhaltenden Munizipalisierungsprozesses beobachten. Vorliegender Sammelband geht auf eine Tagung in Ravensburg im Jahr 2001 zurück, bei der sich namhafte Vertreter der Urbanistik, der Landesgeschichte, der Neueren und Neuesten Geschichte und die Repräsentanten der Archive ehemaliger Reichsstädte zu einem Symposion trafen, bei dem die Schätze der regionalen Umgebung für eine im Prinzip europäische Fragestellung nutzbar gemacht werden sollten.

Begleitet werden die Einzelbeiträge von zwei Überlegungen, die den Umbruch um die Jahre 1803-1806 zum einen in die Tradition der Erinnerungskultur und zum anderen in die auf Tradition basierende Verfassungskonstellation in der Schweiz und in Oberschwaben einbetten. Bernd Roeck konfrontiert die Kultur der späten Reichsstädte mit den literarischen Städtebildern, die zum einen durch Martin Wielands "Geschichte der Abderiten" (1774-1780) und zum anderen durch Jean Pauls "Siebenkäs" (1796/97) in lebhaften Farben überliefert sind. Die in den Reichsstädten des ausgehenden Ancien Régime übersteigerte Erinnerungskultur bezeichnet der Züricher Historiker als ein "Amalgam aus deutscher Renaissance, Meistersinger-Romantik und freundlicher Behäbigkeit" (14), während der Berner Historiker Peter Blickle in Anlehnung an Jean Jacques Rousseaus "Contrat social" darin weniger ein theoretisches Konstrukt als vielmehr ein auf Gesellschaftsverträgen beruhendes rationales Verfassungskonstrukt beschreibt. Diese Befunde werden unmittelbar konfrontiert mit den Ergebnissen einer sich republikanisch gebärdenden Stadtkultur in Oberschwaben, aber auch darüber hinaus mit einem vergleichenden Blick auf die österreichische Donaumonarchie, auf die Niederlande und die bedrohte Souveränität der Schweizer Städte um 1800.

Die Stärken der Sammelpublikation liegen in der regionalen Differenzierung der Befunde, die sich nicht einfach auf den gemeinsamen Nenner eines seit dem Spätmittelalter kultivierten Freiheitsverlustes - so wurden bereits bei Enea Silvio Piccolomini 1457/58, dem späteren Papst Pius II., die Reichsstädte zum Inbegriff der Freiheit überhaupt - subsumieren lassen. So macht Edwin Ernst Weber deutlich, dass für die Rottweiler Landbewohner der Anschluss an das Herzogtum Württemberg im April 1803 durchaus zum Inbegriff einer neuen Freiheit werden konnte. "Die Innwohner dieser Dorffschaften geniessen als Unterthanen Seiner Herzoglichen Durchlaucht die nämlichen Rechte wie die Innwoner [!] der Stadt, und es kan [!] von Unterwürfigkeit gegen die Stadt nie mehr die Rede seÿn." Somit wurde klar, dass in diesem Fall mit der Mediatisierung Freiheitsdivergenzen, die sich über Jahrhunderte hin etabliert hatten, überwunden werden konnten.

Ein anderer, regional interessanter Fall wird sichtbar, wenn das Quantum kommunaler Freiheiten am Ende nicht in eine republikanische Tradition eingeordnet werden kann, die die oberschwäbischen Reichsstädte an die Schweizer Eidgenossenschaft heranführen könnte. Der Luzerner Historiker Thomas Maissen macht deutlich, dass die Städtekultur in der Schweiz und in Oberdeutschland sehr wohl in Nuancen zu trennen ist. Dies zeigte bereits die Stellung der Ratskonsulenten, die mit ihrer römisch-rechtlichen Ausbildung und ihrer reichsrechtlichen Anbindung dafür sorgten, dass die Reichsstädte zu festen Instanzen im Alten Reich heranwachsen konnten. Demgegenüber war die Tradition in der Eidgenossenschaft mit einem sehr stark auf lokalen Rechtstraditionen basierenden Verfassungskonstrukt stärker dezentral organisiert. Zudem fehlten in der Schweiz die Folgen der Staatsbildungskriege der Frühmoderne, die den Munizipalisierungsprozess bereits für die Städte lange vor der Mediatisierung einleiteten.

Die Frage, die von dem Augsburger Historiker Rolf Kießling gestellt wurde, ob eine vordergründig definierte Modernisierung, die zum Teil auch in älteren Vorwürfen gegen die berüchtigten "Vetterlesräte" in den Kommunen und gegen eine allzu behäbige Finanz- und Wirtschaftspolitik unter den Räten begründet sein mag, tatsächlich zu einer Zäsur im Sinne eines Freiheitsverlustes führte, ist nicht alleine zielführend. Oder gab es vielmehr doch Kontinuitäten in einer sich schicksalhaft ergebenden Bürgerschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert? Diesen Zwiespalt nicht nur im reichsstädtischen Milieu (Hans Eugen Specker, Ulm / Peter Eitel, Ravensburg / Maria E. Gründig, Bieberach / Franz-Rasso Böck, Kempten / Heiner Stauder, Lindau) überprüft zu haben, sondern ihn mit den Landstädten (Michael Barczyk, Waldsee / Ludwig Ohngemach, Ehingen) und den Residenzstädten (Reinhard Stauber / Alois Niederstätter) im Vergleich zu konfrontieren, ist eine Stärke der Publikation. Zudem wird der in den Leitartikeln angesprochene Vergleich mit den Beiträgen von Andrea Iseli, Maarten Prak und Thomas Maissen eingelöst.

Kritisch ist anzumerken, dass die zur Disposition stehende Begrifflichkeit der Munizipalisierung als eines im Gegensatz zur Mediatisierung sehr viel länger greifenden historischen Phänomens zwar angesprochen, aber keineswegs konsequent zu Ende geführt wurde. Hierzu hätte es nicht nur des Vergleichs von Land-, Residenz- und Reichsstädten bedurft, sondern auch einer Dehnung der zeitlichen Perspektive zurück in das Zeitalter der großen Städtegründungen im Spätmittelalter und hinein in die Umbruchszeit des Industrialisierungszeitalters. Der sich anbietende Vergleich mit der zeitgleich verlaufenden Säkularisierungswelle in Europa taucht ebenfalls nur am Rande auf. Dies ist allerdings mit Blick auf die Ausstellungskataloge und Begleitwerke der großen Säkularisationsausstellungen in Bad Schussenried und anderswo in umgekehrter Zielrichtung ebenso gehandhabt worden. Schließlich hätte eine Bibliografie raisonée am Ende das Hin- und Herblättern in den Fußnoten erleichtert.

Die interessante Frage, ob sich die Mediatisierung der Reichsstädte und die skizzierten Vorgänge eher als ein Schlusskapitel alteuropäischer Geschichte lesen lassen oder ob nicht vielmehr die Moderne und unsere Gegenwart aus den theoretischen Konzepten alteuropäischer wie oberschwäbischer Städte (Reichsstädte) schöpft, bleibt letztlich offen. Dies ist gerade das überzeugende Ergebnis dieser lesenswerten Publikation, die mit großzügiger Unterstützung der Stiftung Ravensburger Verlag in der bibliotheca academica des Epfendorfer Verlagshauses im Auftrag der Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur e.V. in gediegener, übersichtlicher und im Übrigen auch reich bebildeter Ausführung die Lesezimmer der Nation zweifelsohne bereichern wird.

Rezension über:

Peter Blickle / Andreas Schmauder (Hgg.): Die Mediatisierung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext (= Frühneuzeit-Forschungen; Bd. 11), Epfendorf: bibliotheca academica 2003, 304 S., 9 Abb., ISBN 978-3-928471-38-1, EUR 39,00

Rezension von:
Wolfgang Wüst
Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Wüst: Rezension von: Peter Blickle / Andreas Schmauder (Hgg.): Die Mediatisierung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext, Epfendorf: bibliotheca academica 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/07/5549.html


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