sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8

Irmin Schneider: Die deutsche Rußlandpolitik 1890-1900

Angesichts der Fülle an sehr detaillierten und hoch spezialisierten Darstellungen zur deutschen Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere zu den deutsch-russischen Beziehungen, stellt sich zwangsläufig die Frage, worin der Nutzen einer auf einen Zeitraum von gerade einmal zehn Jahre angelegten Untersuchung liegt. Zwar zieht der Verfasser der vorliegenden Dissertation Archivbestände des deutschen, russischen und französischen Außenministeriums heran, doch bemerkt er gleich in der Einleitung, dass er auf eine weitgehende Detailanalyse verzichtet. Das Buch bringt tatsächlich keine neuen Erkenntnisse, sondern liefert eher einen Überblick. Nach der Einführung in das Thema (Kapitel 1) gibt der Autor zunächst einen Rückblick auf die deutsch-russischen Beziehungen in der Bismarck-Ära (Kapitel 2). Kapitel 3 beschreibt den politischen Wandel nach dem Rücktritt Bismarcks, der durch die langfristig wirkenden Rahmenbedingungen (Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsentwicklung, Nationalismus in der Presse) sowie die kurzfristigen personellen Veränderungen auf Regierungsebene und im diplomatischen Dienst seine Koordinaten erhält. Kapitel 4 nähert sich den deutsch-russischen Beziehungen unter den Aspekten a) dynastisches Verhältnis, b) öffentliche Meinung, c) polnische Minderheitenfrage und d) Wirtschaftsbeziehungen. Kapitel 5 bietet eine Einordnung in die Weltpolitik, wobei auch der deutsch-russische Interessengegensatz im Orient und in Fernost zur Sprache kommt. Die Darstellung schließt mit einem Resümee (Kapitel 6) ab.

Das Arbeitskonzept bleibt insgesamt unklar. Einerseits bezeichnet der Autor die Dekade 1890 bis 1900 als "Inkubationszeit" für die späteren Gewaltausbrüche in den deutsch-russischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts, andererseits verliert er sich zu oft in detaillierten, aber bekannten Ausführungen zur Bismarck'schen Russlandpolitik. Die Charakterisierung der Amtsnachfolger Caprivi, Hohenlohe-Schillingsfürst und von Bülow beschränkt sich dagegen auf drei Seiten, enthält viel Belangloses und geht in keiner Weise auf ihre außenpolitische Konzeption ein. Dies betrifft gerade auch von Bülow, der vor seinem Amtsantritt Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie Geschäftsträger in St. Petersburg gewesen war. Oberflächlich werden auch die Veränderungen im diplomatischen Apparat nach dem Weggang Bismarcks beschrieben. Hier hätte ein Einblick in die diplomatische Arbeit der deutschen Botschaft in St. Petersburg für die Zeit 1890 und 1900 auf der Grundlage einschlägigen Archivmaterials die Mechanismen der Russlandpolitik offen legen können. So spricht Schneider von "Schwächen in der Konzeptentwicklung" in der deutschen Russlandpolitik (83), ohne diese an Personen festzumachen. Auch erwähnt er das bekannte Misstrauen, dass ab 1890 in den deutsch-russischen Beziehungen einsetzte sowie die Angstpsychosen, die in beiden Ländern vor einem Angriff der Gegnerseite bestanden, konkretisiert jedoch nicht die zunehmende nationalistische Stimmung im Militär und in der Presse. Die Frage, inwieweit diese Kreise die politische Meinungsbildung in den beiden Ländern sowie den Entscheidungsprozess der politisch Verantwortlichen (Reichskanzler, Auswärtiges Amt) beeinflussten, bleibt unbeantwortet. Hier hätten Dokumente aus den deutschen und russischen Militärarchiven sowie die einschlägige Presse konsequent ausgewertet werden müssen. Stattdessen beschränkt sich der Autor darauf, russische Pressepolemiken aus den 1880er-Jahren zu zitieren.

Keine neuen Erkenntnisse bringt das Buch in der Frage, warum Caprivi den Rückversicherungsvertrag nicht verlängert hat. Schneider greift das Schlagwort von der "Politik der freien Hand" auf, bietet jedoch keine Erklärung hinsichtlich des konzeptionellen Entscheidungsprozesses. Ohne neues Archivmaterial zu bieten, kommt der Autor zu dem Schluss, dass "die Entscheidung des neuen Kanzlers rätselhaft bleibt" (104). Das Berchem'sche Gutachten erwähnt Schneider nur mit einem Wort, über die Entstehungsgeschichte erfährt der Leser überhaupt nichts. Allgemein ist die Rede von "einer Gefährdung deutscher Interessen" im Falle einer Verlängerung des Rückversicherungsvertrages (104). Richtig ist, dass der vertragslose Zustand Russland dazu bewegte, eine Annäherung an Frankreich zu suchen.

Das Problem der polnischen Minderheit wird isoliert aus deutscher und russischer Perspektive betrachtet, ohne einen Bezug zur Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses herzustellen. Hier stellt sich die drängende Frage, inwieweit das Thema der polnischen Wanderarbeiter in bilateralen Gesprächen erörtert wurde und welche konkreten Reibungspunkte sich ergaben. Unscharf bleiben auch Schneiders Ausführungen zur deutschen Wirtschaftspolitik gegenüber Russland. Schließlich ist es bemerkenswert, dass Caprivi zwar den Rückversicherungsvertrag nicht verlängerte, jedoch das Bismarck'sche Lombardverbot im Herbst 1894 aufhob. Auch macht sich eine Schwäche in der Darstellung bemerkbar, die sich auf die Zollpolitik in den 1870er- und 1880er-Jahre konzentriert, auf die Beweggründe des Strategiewechsels unter Caprivi jedoch nicht eingeht. Im russischen Außenministerium bewertete man im Übrigen den Abschluss des deutsch-russischen Handelsvertrages von 1894 als ein Zeichen der Entspannung. Vor allem russische Wirtschaftskreise waren an einer Annäherung an Deutschland interessiert, während die militärische Führung eine Allianz mit Frankreich favorisierte. Dem Autor ist zuzustimmen, dass die handelspolitischen Vereinbarungen gegen die russisch-französische Militärallianz nichts ausrichten konnten, um noch einen Kurswechsel zu erreichen. Schneiders These, Caprivis Versöhnungspolitik gegenüber der polnischen Minderheit habe auf eine Soldarisierung der Polen im russischen Teilungsgebiet im Falle eines russischen Angriffes gesetzt, wird anhand der Quellen nicht näher spezifiziert. Das "Friedensmanifest" des Zaren vom August 1898, das die Großmächte zur Abrüstung aufrief, wurde in Berlin als Täuschungsmanöver gewertet. Tatsächlich ist das "Friedensmanifest" nicht als Widerspruch zur russisch-französischen Allianz zu sehen, da es dem Zaren nicht um eine Abrüstung, sondern vielmehr um eine Begrenzung der Aufrüstung ging. Der Ablauf der Haager Konferenz wird nur kurz beschrieben. Der Einfluss des deutschen Völkerrechtlers Zorn, der durch seine persönlichen Beziehungen zum russischen Kollegen Martens mit der russischen Verhandlungsposition gut vertraut war, auf den Entscheidungsprozess der deutschen Seite erfährt keine Erklärung.

Ein Konfliktfeld zwischen dem Deutschen Reich und Russland stellte der Orient dar. Die Nachfolger Bismarcks kamen der russischen Seite zwar in der Meerengenfrage entgegen, doch die Allianz mit Österreich machte Spannungen unausweichlich. Hinzu kam, dass die deutschen Wirtschaftsinteressen in Kleinasien von der russischen Regierung als Stabilisierung der osmanischen Regierung angesehen wurde, was nicht in russischem Interesse lag. In St. Petersburg sah man zudem den wachsenden Einfluss deutscher Offiziere im osmanischen Heer mit Sorge. Zur weiteren Verstimmung im deutsch-russischen Verhältnis trugen die chinesisch-japanischen Friedensverhandlungen von 1895 bei, die eine französisch-russische Anleihe zur Zahlung der chinesischen Kriegsschulden in Aussicht stellten, eine deutsche Beteiligung jedoch ausschlossen. Zusätzlichen Konfliktstoff barg der Hafen von Kiautschao, den beide Mächte als Marinestützpunkt beanspruchten. Das russische Marineministerium riet jedoch von einem militärischen Konflikt ab. St. Petersburg fand sich mit der deutschen Inbesitznahme von Kiaotschao ab und besetzte stattdessen Port Arthur. Bei der Niederschlagung des antikolonialistischen Boxeraufstands zogen dann allerdings beide Mächte am gleichen Strang.

Abschließend lässt sich das Fazit ziehen, dass die Dissertation keine wesentlich neuen Einsichten vermittelt. Die Tatsache, dass Russland nach der Schmach des Krimkrieges zur kontinentalen Vormachtstellung zurückstrebte, auf dem Weg dorthin in der deutsch-österreichischen Allianz ein Hindernis sah und zur Neutralisierung der Mittelmächte die Annäherung an Frankreich suchte, setzte dem deutschen Verhandlungsspielraum zwangsläufig einen engen Rahmen. Um sich einen wirklich passablen Einblick in die "Politik der freien Hand" der Jahre 1890 bis 1900 zu verschaffen, greift man besser zu dem Standardwerk "Das vergangene Reich" von Klaus Hildebrand. Im Übrigen liefert Schneider eine traditionelle Diplomatiegeschichte, die kulturwissenschaftliche Fragestellungen wie etwa die Bedeutung von Mentalitäten in der Diplomatie, oder die Entwicklung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland in der Dekade 1890-1900 überhaupt nicht aufgreift. Die Behandlung derartiger Aspekte hätte tatsächlich einen neuen Horizont eröffnen können.

Rezension über:

Irmin Schneider: Die deutsche Rußlandpolitik 1890-1900, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 344 S., ISBN 978-3-506-78073-7, EUR 38,00

Rezension von:
Eva-Maria Stolberg
Seminar für Osteuropäische Geschichte, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Eva-Maria Stolberg: Rezension von: Irmin Schneider: Die deutsche Rußlandpolitik 1890-1900, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/07/3120.html


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