Rezension über:

Christina Stange-Fayos: Lumières et obscurantisme en Prusse. Le débat autour des édits de religion et de censure (1788-1797) (= Convergences; Vol. 28), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, IX + 442 S., ISBN 978-3-906770-40-6, EUR 71,70
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Renko Geffarth
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Renko Geffarth: Rezension von: Christina Stange-Fayos: Lumières et obscurantisme en Prusse. Le débat autour des édits de religion et de censure (1788-1797), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/05/3299.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christina Stange-Fayos: Lumières et obscurantisme en Prusse

Textgröße: A A A

"Lumières et Obscurantisme", Aufklärung und Gegenaufklärung sind ein griffiges Gegensatzpaar, das immer wieder die Titelgebung geisteswissenschaftlicher Literatur inspiriert. Die unter dieser Überschrift erschienene 'Thèse de doctorat' der in Toulouse lehrenden Germanistin Christina Stange-Fayos fügt sich auf den ersten Blick ein in diese gängige Perspektive auf den publizistischen Streit um die Edikte des preußischen Ministers Johann Christoph von Wöllner aus dem Jahre 1788. Der Titel scheint den Gang der Studie zu präjudizieren, verweist er die Teilnehmer der Debatte doch in zwei klar voneinander geschiedene Lager - hier die Aufklärer, dort die Obskuranten. Gegenstand der Arbeit sind allerdings weniger diese Lager selbst als vielmehr die Argumente, die Struktur und die Topoi und rhetorischen Figuren der Auseinandersetzung in Druckschriften ("brochures") und Periodika. Die Absicht, eine solch detaillierte pressehistorische Analyse übergreifend für eine große Anzahl der innerhalb eines Jahrzehnts erschienenen Schriften zu unternehmen, begründet den Anspruch der Autorin auf eine Originalität, die allein von der Titelgebung her nicht unbedingt zu erwarten wäre.

Stange-Fayos teilt ihre Untersuchung in drei Abschnitte, einen historischen, einen zur Debatte in den "brochures" und einen zur Debatte in der Presse. Der historische Teil (11-122) widmet sich zunächst der inhaltlichen Analyse des Religions- und des Zensuredikts und folgt dabei der einleitend umrissenen eher traditionellen Sichtweise, die Edikte seien Ausdruck der "reaktionären" Politik des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. im Unterschied zur friderizianischen "politique éclairée" (1). Einen Vorgänger des Religionsedikts identifiziert die Autorin im Anschluss an eine Arbeit aus den 1920er-Jahren in einer Abhandlung, die der spätere Minister Wöllner bereits 1785 dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm überreicht hatte; der Einfluss Wöllners auf das Religionsedikt wird damit nachvollziehbar. Kern des Edikts war die Auseinandersetzung mit dem "gemißbrauchten" Begriff Aufklärung (so das Edikt) und ihrer für die Gläubigkeit der preußischen Untertanen schädlichen Wirkung, der zu steuern das Edikt beabsichtigte. Stange-Fayos konstatiert den eminent politisch-administrativen Charakter des Religionsedikts, der vor allem gegen die aufgeklärte Theologie (Neologie) gerichtet war, eine der Ursachen für die Schärfe der anschließenden Debatte. Das Zensuredikt vom Dezember 1788 wiederum betrachtet die Autorin als die wichtigste einer Reihe von "mesures complémentaires" (37), die zur Unterstützung der Implementation des Religionsedikts dienten; im Vergleich zu Letzterem attestiert sie dem Zensuredikt allerdings eine angesichts seiner zurückhaltenden Vorschriften eher untergeordnete Bedeutung.

Im Anschluss an die unmittelbare Analyse der beiden Gesetzestexte widmet sich Stange-Fayos recht ausführlich dem "Kampf um Einfluss im Umkreis des Thronfolgers von Friedrich II." (43-122). Protagonisten dieses Kampfes waren demnach die Geheimen Gesellschaften, allen voran die Gold- und Rosenkreuzer unter ihrem Berliner Oberhaupt Wöllner. In Ermangelung neuerer Studien basiert die Darstellung dieses Kapitels auf älteren Arbeiten und nimmt dabei die gängige, wiewohl unsichere Position ein, das Religionsedikt sei Ausdruck eines sich entwickelnden politisch-religiösen Konservatismus, vertreten von den als "Obskuranten" apostrophierten Rosenkreuzern, und des persönlichen Machtstrebens Wöllners. Insgesamt seien die Geheimen Gesellschaften an politischer Macht und damit an Einflussnahme auf die Staatsspitze interessiert gewesen - eine beinahe verschwörungstheoretische Perspektive, die wohl der unzureichenden Forschungslage auf diesem Gebiet geschuldet ist. Merkwürdig erscheint zudem, dass für den Fortgang der Studie der historische Hintergrund ohnehin zweitrangig bleibt.

Der zweite und längste Teil der Arbeit (123-267) geht detailliert der Rezeption der Edikte in den "brochures" nach, in den als Monografien oder kleinere Separatdrucke erschienenen Debattenbeiträgen der beiden "Lager": jenem der "Aufklärer" (die mit eben diesem deutschsprachigen Begriff gekennzeichnet werden) und jenem der "Obskuranten". Stange-Fayos geht in ihrem Korpus von Schriften in einigen Fällen über die Mikrofiche-Sammlung von Dirk Kemper aus dem Jahre 1996 [1] hinaus, ohne aber sämtliche der von Kemper verzeichneten Werke zu untersuchen. Einbezogen werden Autoren wie Carl Friedrich Bahrdt, Peter Villaume oder Heinrich Würzer auf der einen Seite und Johann Salomo Semler, Norbert Reders oder Simon Ludwig Eberhard de Marées auf der anderen Seite. Analysiert werden die Schriften jeweils im zugehörigen diskursiven Kontext: Aufeinander reagierende Kritiker und Apologeten der Edikte erfahren eine zusammenhängende Untersuchung; eine tabellarische Übersicht der Schriften fasst die Verbindungen zusammen und teilt sie in die drei Rubriken "rationalistische Schrift", "erstere unterstützende Schrift" und "erstere zurückweisende Schrift"(169). Wenngleich die Kategorien stark schematisiert erscheinen, vermögen sie doch die Struktur der Debatte ex post zu veranschaulichen.

Aufschlussreich ist die Analyse der "intertextuellen" Bezüge zwischen verschiedenen Schriften, die sich meist weniger auf den Inhalt als auf die Struktur bezieht, wie die Autorin selbst betont (171). Grundlegende Gemeinsamkeit sämtlicher Schriften war die Absicht, den Leser von der jeweiligen Position zu überzeugen - untersucht werden deshalb die teils unterschiedlichen, teils ähnlichen Motive, Formulierungen und wesentlichen Gegenstände der Rezeption der Edikte. Auf der "obskurantistischen" Seite identifiziert Stange-Fayos vor allem die Figuren Regierung, Macht und Autorität, daneben die "Preßfrechheit" und die "falsche Aufklärung" als Ergebnisse der Pervertierung von Pressefreiheit und Aufklärung. Auf der "fortschrittlichen" (193) Seite findet die Autorin als wiederkehrende Figuren die von den Edikten bedrohten "Wohltaten" der Aufklärung, Pressefreiheit als Ausdruck der Denkfreiheit und Kritik des Obskurantismus, Letzteres insbesondere im Hinblick auf den preußischen König, der aus Sicht der Aufklärer lediglich schlecht - nämlich von Wöllner - beraten wurde. Gegenüber diesen argumentativen Differenzen sind es vor allem von allen Publizisten gleichermaßen verwendete rhetorische Mittel, denen die Autorin detailliert nachspürt, darunter Anreden - zumeist an den König gerichtet -, Widmungen, Appelle an den unparteiischen Leser, Beschuldigungen und der "gute Ton", der zum Gradmesser der Glaubwürdigkeit eines Schreibers wurde. Aber auch Stilmittel wie die Lichtmetaphorik - ebenfalls von beiden "Lagern" verwendet - und die Suche nach historischer Legitimation, etwa durch Rekurse auf Luther, kommen zum Tragen. Nach dieser erschöpfenden Untersuchung kommt Stange-Fayos dann allerdings zu dem in Anbetracht der dualistischen Perspektive von Aufklärung und Obskurantismus wenig erstaunlichen Ergebnis, die Debatte habe ihr eigentliches Ziel, die "Wahrheit" im Bezug auf die Einschätzung der preußischen Edikte zu finden, nicht erreicht. Da es aber gemeinsame Strukturen und Strategien, unabhängig von der Position, gegeben habe, komme der Debatte insgesamt eine große Bedeutung für die Herausbildung einer "opinion publique" zu (267).

Im dritten und letzten Teil ihrer Abhandlung (269-357) wendet sich die Autorin dann den Periodika des späten 18. Jahrhunderts zu. Sie begründet die Trennung von Separatdrucken und Zeitschriftenartikeln mit der zeitgenössisch rasch wachsenden Bedeutung der Presse; zugleich nimmt sie jetzt eine leichte Differenzierung des aufgeklärten "Lagers" vor, indem sie dort gemäßigte und radikale Gegner der Edikte voneinander trennt, Letztere mit dem Stichwort Jakobiner illustriert (278). Im Unterschied zur Analyse der "brochures" geht Stange-Fayos nun nicht mehr detailliert auf einzelne Artikel ein, sondern beschränkt sich auf Zusammenfassungen der Positionen der drei am stärksten in die Debatte involvierten Zeitschriften; dies waren das Braunschweigische Journal, die Neuesten Religionsbegebenheiten und die Allgemeine Deutsche Bibliothek. Die Diskussion fand hier vor allem in Form von Rezensionen der Debattenbeiträge in den "brochures" statt. Prägend für den Duktus der Rezensionen war jeweils die Grundposition der Zeitschriften, in den Neuesten Religionsbegebenheiten diejenige der "Orthodoxie", in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek diejenige der "Aufklärung". In Anlehnung an den zweiten Teil ihrer Studie nimmt Stange-Fayos einige dort behandelte Autoren wieder auf, darunter Villaume und Semler, und analysiert nun die Rezensionen ihrer Schriften in den drei Organen im Vergleich. Schließlich kommt sie zu dem Ergebnis, die Herausgeber der Periodika hätten ihren Einfluss auf die Leserschaft größer eingeschätzt als denjenigen der Autoren der "brochures". Dieser Bewertung entsprach die verschärfte Zensur der Presse in Preußen seit 1791. Davon ausgehend konstatiert die Autorin zwei Phasen der Debatte, eine Erste zwischen 1788 und 1792, in der die Aufklärer dominierten, und eine Zweite in den Folgejahren, in der sich die Tendenz umkehrte (355).

In ihrem Fazit nimmt Stange-Fayos zunächst die altbekannte Konservatismus-These wieder auf: Die Polemik um Religions- und Zensuredikt führe die Entstehung eines preußischen Konservatismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich vor Augen. Wichtigstes Fazit ihrer Studie ist jedoch die Feststellung, dass die Medien der Zeit nicht nur an der Kontroverse teilnahmen, sondern sich mit ihr und durch sie entwickelten und spezialisierten, während die Form der Debatte zugleich die Entstehung der "opinion publique" beeinflusste (363).

Wenngleich die Studie der Toulouser Germanistin in ihrer historischen Perspektive konventionell auftritt, führt sie doch in kenntnis- und materialreicher Weise durch die ebenso umfängliche wie unübersichtliche Publizistik um die beiden preußischen Edikte. Im Zusammenspiel mit den im Anhang abgedruckten Quellen stellt die Arbeit insgesamt ein nützliches Arbeitsbuch für den an der Presse- und Zensurgeschichte der Spätaufklärung interessierten Leser dar.

Anmerkung:

[1] Dirk Kemper: Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum Religionsedikt vom 9. Juli 1788. 118 Texte auf 202 Mikrofiches, Hildesheim 1996.

Renko Geffarth