sehepunkte 4 (2004), Nr. 3

Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor

Die - nicht zuletzt in Folge der kulturalistischen Wende im Gesamtfach - boomende Kommunikationsforschung hat ihr Augenmerk vornehmlich auf den Kulturtransfer, auf Orte der Kommunikation oder auf die Medien als Mittel und Nachweis von Kommunikation gerichtet. Demgegenüber blieben bisher funktionale Bezüge etwa zu Staatsbildung, Herrschaftspraxis oder Vergesellschaftung einerseits sowie die materiellen und technischen Grenzen der Kommunikation andererseits vornehmlich am Rande der Betrachtungen. Zugleich hatte sich die Verkehrs- und Postgeschichte lange Zeit eher im realienkundlich-positivistischen Fahrwasser betätigt und weiterführenden Fragestellungen oder gar theoretischen Neuansätzen sprachlos gegenübergestanden.

Daher fehlte es vor allem an solchen Untersuchungen, die das offen gebliebene Schnittmengenfeld von methodischer Innovation und modernen kommunikations- und wahrnehmungsgeschichtlichen Konzepten auf der einen sowie vermeintlich ausgeforschten und ohnedies oftmals lediglich als randständig eingestuften Phänomenen mit romantisch-applikatorischem Charakter wie Straßenbau und Postkutschenverbindungen auf der anderen Seite, besetzen.

Es ist das Verdienst der von Holm Sundhaussen betreuten Berliner Dissertation, diesen weißen Fleck zu einem guten Teil abgedeckt zu haben. Helmedach begreift Verkehrsgeschichte als integralen Bestandteil, als "Zuarbeiterin" von Gesellschaftsgeschichte; vor dem Hintergrund des Modernisierungsparadigmas sollen die Entwicklungen im Verkehrssystem untersucht und deren Konsequenzen für den Transformationsprozess von Herrschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur erarbeitet werden.

Der zeitliche Rahmen ist gespannt von den Friedensschlüssen von Rastatt (1714) beziehungsweise Passarowitz (1718), die das Habsburgerreich gleichsam neu konstituierten, und endet mit der Eröffnung des letzten Abschnitts der Eisenbahnlinie Wien-Triest im Jahre 1857. Der Untersuchungsraum erstreckt sich "von Wien über die deutschen Erblande der Habsburger entlang der Südflanke der Ostalpen über die Adriaküste bis zur habsburgisch-osmanischen Grenze" (16); der böhmisch-mährisch-schlesische Raum wird dabei also ausgeblendet.

Die Abhandlung besteht im Hauptteil aus zwei großen Blöcken, zum einen die strukturellen Rahmenbedingungen des Verkehrssystems und zum anderen die subjektive Wahrnehmung von Reise, Verkehr und Transport durch einzelne Zeitgenossen.

Die Darstellung des ersten Blocks erfolgt nach chronologisch-sachlichen Kriterien. Zunächst werden Verkehrswege und Verkehrsmittel sowie die Determinanten des Personen- und Güterverkehrs um 1700 nachgezeichnet. Eine so genannte erste Modernisierungswelle, Thema des folgenden Abschnitts, initiiert die ersten Kunststraßenbauten, Flussbegradigungen und Kanäle in der Regierungszeit Karls VI. Diesen ersten Bemühungen bleibt jedoch vielerorts der Erfolg versagt; erst in der theresianisch-josephinischen Epoche greifen die Straßenbaukonzepte, nachdem politisch-administrative Neuerungen eine Zentralisierung der Verkehrspolitik ermöglichten. Auf diesen eher auf die Ebene des Gesamtstaats zielenden Abschnitt folgt eine Fokussierung auf das Baugeschehen im Detail an konkreten Beispielen. Beleuchtet wird auch das Personal im Straßenbau, Ingenieure ebenso wie einfache Arbeiter. Jeweils kürzere Kapitel werden dem privaten Fuhrwesen und einigen Aspekten von Straßenraub und Straßensicherheit gewidmet. Eine Organisationsgeschichte der Post schließt diesen ersten Block ab.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit werden die Veränderungen der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelten beleuchtet. Zunächst untersucht der Autor sehr knapp die Reflexionen der Dienstleister, also der Kutscher und Fuhrleute. Den weitaus größten Raum umfasst die soziale Praxis des Reisens zwischen Wien und Triest, Pest und Venedig aus der Sicht der Kunden, die anhand von insgesamt sechs Reisebeschreibungen analysiert wird.

In seinem Resümee vertritt Helmedach die These, das Habsburgerreich habe in seinen westlichen Landesteilen hinsichtlich Qualität und Quantität der Straßenbauten und Postverbindungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert mit an führender Stelle in Kontinentaleuropa gestanden. Trotz weiterer Bemühungen habe man diesen Vorsprung im europäischen Vergleich im Verlauf des Vormärz und des Eisenbahnzeitalters jedoch eingebüßt.

Das Buch überzeugt über weite Strecken. Vor allem die Verbindung der multiperspektivisch angelegten strukturgeschichtlichen Untersuchung von Straßenbaupolitik und Postverbindungen einerseits mit den Reflexionen der Reisenden andererseits ermöglicht eine besondere Tiefenschärfe der Problematik.

Ein wenig aufgesetzt und vielfach schlicht unnötig wirken dagegen die theoretischen Einlassungen, zumal sich bis auf das Modernisierungsparadigma kein wirklich durchgehender Leitfaden erkennen lässt. Es wäre vielleicht gewinnbringender gewesen, sich stattdessen zur notwendigen hermeneutischen Verklammerung stärker an den aktuellen Forschungsdiskussionen zur Herrschaftspraxis oder Vergesellschaftung zu orientieren, um auf diese Weise die wichtigen und methodisch vorbildlich erarbeiteten Ergebnisse geschickter und nachhaltiger einzubetten.

Trotz dieser Einwände ist die Darstellung uneingeschränkt zu empfehlen; sie wird der Verkehrs- und der Gesellschaftsgeschichte wichtige Impulse verleihen.

Rezension über:

Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter (= Südosteuropäische Arbeiten; Bd. 107), München: Oldenbourg 2002, 549 S., ISBN 978-3-486-56524-9, EUR 64,80

Rezension von:
Ralf Pröve
Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Pröve: Rezension von: Andreas Helmedach: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter, München: Oldenbourg 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/03/1305.html


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