sehepunkte 4 (2004), Nr. 1

Michael Thimann: Lügenhafte Bilder

Parmigianino malte in den Jahren 1523/24 in Fontanellato unweit von Parma in der Rocca Sanvitale einen Raum mit Fresken aus. Das im Grundriss rechteckige Zimmerchen befindet sich in einem entlegenen Winkel im Erdgeschoss der Festung. Freskiert wurden das Gewölbe, die Lünetten - auf den Schmalseiten des Raumes jeweils drei und auf den Längsseiten vier - sowie die Stickkappen. Das Gewölbe ist mit einer nach oben offenen Pergola bemalt, in der sich Putten tummeln. Der Blick an die Decke erscheint als Blick in den Himmel. Dort befindet sich im Zentrum ein in Stuck gefasster, heute blinder Spiegel, in dem ein Betrachter des 16. Jahrhunderts jedoch sich selbst hat sehen können. Die künstlerische Illusion, er befinde sich in einer Gartenlaube, wird hier programmatisch aufgehoben; eine den Spiegel rahmende lateinische Inschrift mahnt: RESPICE FINEM. In den Lünetten entfaltet sich in mehreren Szenen die tragische Geschichte von Diana und Actaeon, deren klassische literarische Fassung sich im 3. Buch der Metamorphosen des Ovid findet. Unterhalb der Malerei verläuft ein hölzernes Gebälk, das ebenfalls eine lateinische auf den Text von Ovid bezogene Inschrift enthält.

Der Zyklus Parmigianinos scheint wohl wegen seiner Unzugänglichkeit schon kurz nach seiner Entstehung in Vergessenheit geraten zu sein; Vasari etwa erwähnt ihn nicht. Auch in der modernen kunstgeschichtlichen Forschung hat er, anders als etwa die Camera di San Paolo von Correggio, bisher ein Schattendasein geführt [1], obwohl es sich um eines der frühesten Beispiele mythologischer Malerei im großformatigen und anspruchsvollen Medium des Freskos handelt, eine Gattung, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zur bevorzugten Gattung höfischer Repräsentationskunst entwickeln sollte. Dies mag mit den Rätseln zu tun haben, die der Zyklus aufgibt. Zu diesen Rätseln gehört eine Figur auf der ersten Wandseite. Dort sind zwei muskulöse Männer dargestellt, offenbar Jäger im Aufbruch, sowie eine Gestalt, in der die ältere Forschung eine fliehende Nymphe erkannt hat. Eine fliehende Nymphe aber lässt sich, das ist immer bemerkt worden, nicht befriedigend mit dem ovidischen Text erklären. Sie stellte offenbar eine sonderbare Erfindung des Malers dar. Ute Davitt-Asmus hat als erste dieses Rätsel zu lösen versucht. Unter Rückgriff auf den petrarkistischen Topos der Caccia d'amore und in Anlehnung an Pico della Mirandola hat sie eine Verwandlung des Liebenden in den Geliebten durch die Liebe gesehen. [2] Ihre Interpretation steht in der ikonographischen Tradition von Edgar Winds heidnischen Mysterien, an die auch Daniel Arasse anknüpft [3], der in dem Freskenzyklus eine Hommage des Auftraggebers Galeazzo Sanvitale an die Schönheit seiner Ehefrau Paola Gonzaga erkennen wollte. Die Nymphe verkörpert in beiden Deutungen ein Mysterium. Dieser gordische Knoten hermetischer Interpretationen, die auf entlegene Texte als Quellen angewiesen sind und von einem hieroglyphischen Bildverständnis ausgehen, wird von Michael Thimann in seiner Untersuchung durchschlagen. Er schlägt in einer Revision der bisherigen Forschung - und hier liegt der Clou seiner Untersuchung - vor, in der fraglichen Figur keine Nymphe, sondern Actaeon selbst vor der Metamorphose zu erkennen. Bereits die philosophisch-spekulative Deutung von Davitt-Asmus hatte ihren Ausgangspunkt von der nahezu identischen Gewandung der angeblichen Nymphe und dem schon halb in einen Hirschen verwandelten Actaeon auf der anschließenden Wand genommen. Thimann sieht hierin ein Indiz für die Identität beider Figuren und macht geltend, dass bei Ovid, insbesondere aber in den frühneuzeitlichen Fassungen der Metamorphosen, der freien Prosaübersetzung des Giovanni dei Bonsignori, geschrieben zwischen 1375 und 1377, erstmals 1497 in Venedig gedruckt und mit Holzschnitten bebildert, oder in der auf Bonsignori zurückgehenden 1522 in Reimform abgefassten Version des Niccolo degli Agostini, Actaon explizit als jugendlich charakterisiert werde, eine Beschreibung, die sich nicht mit den beiden Jägern, wohl aber mit der umstrittenen, von Thimann als androgyn bezeichneten Figur in Einklang bringen lasse. Thimanns Vorschlag hat den Charme, dass nun ganz einfach die Metamorphosen, oder aber wie er nahe legt, eine ihrer im 16. Jahrhundert populären Fassungen die Textgrundlage für Parmigianino gewesen sind, sein Ehrgeiz und seine Leistung seien die Umsetzung des Textes in eine Bilderzählung, die Gleichrangigkeit mit der Dichtung beanspruchen kann, gewesen.

So bestechend in dieser Hinsicht Thimanns Neulektüre der vorgeblichen Nymphe als Actaeon vor der Verwandlung ist, so schwer fällt es, in der Gestalt selbst einen Jüngling zu erkennen. Zwar ist richtig, dass sich im Werk Parmigianinos, wie in vielen manieristischen Gemälden, etliche höchst androgyne Jünglingsfiguren befinden, insbesondere unter seinen Engeln, dennoch hat keine dieser Figuren ein vergleichbar mädchenhaft rundliches Gesicht oder zusammengebundene lange Haarsträhnen wie dieser angebliche Jäger. Hinzu kommt, dass auch Thimann das zweite große Rätsel, nämlich die weibliche Figur auf der vierten Wand des Camerino, die auf Grund ihrer Attribute als Ceres gedeutet wird und in keinem direkten Zusammenhang mit der Geschichte von Diana und Actaeon zu stehen scheint, nicht befriedigend erklären kann. Jenseits dieser Reserve liegt allerdings eine anregende und informative Studie zur Ovidrezeption im frühen 16. Jahrhundert vor, die über eine werkmonografische Untersuchung weit hinaus geht und von der zu hoffen ist, dass ihre Herausforderung angenommen wird.

Thimann stellt das Camerino in den Kontext moralischer, humanistischer, literarischer und kunsttheoretischer Auffassungen vom Mythos. Er begreift Parmigianinos Camerino in Fontanellato als innovativen und exemplarischen bildkünstlerischen Beitrag zur Mythosrezeption in der Renaissance, die sich vor allem als Rezeption der Metamorphosen des Ovid, der "Bibel der Maler" darstellt. Seine interdisziplinär angelegte Untersuchung führt literaturwissenschaftliche und -historische Analysen verschiedener Textsorten aus Mythosrezeption, Kunsttheorie und Poetik und die kunsthistorische Analyse des Camerino, welches selbst eine Synthese aus Text und Bild darstellt, zusammen.

Untergliedert ist sie in zwei große Abschnitte. Der erste ist der Rekonstruktion eines frühneuzeitlichen Mythenverständnisses und der sich daraus ergebenden Darstellungsprobleme gewidmet. Vor allem Ovids Metamorphosen wurden im frühneuzeitlichen Sprachgebrauch als Favole bezeichnet. Dieser Begriff ist eng mit Poesie und Fiktion verknüpft und damit zugleich mit der künstlerischen Fantasie. Als ein der dichterischen Fantasie analoges Phänomen wird die Chimäre von Thimann als Produkt der bildnerischen Erfindungskraft in kunsttheoretischer Perspektive erläutert. Die Darstellung eines Menschen in der Metamorphose zum Tier, bei Parmigianino in einer Tier-Mensch-Zwittergestalt, war unter Berufung auf die Freiheit der künstlerischen Einbildungskraft zu rechtfertigen.

Das mythologische Wandbild hat eine funktional eng begrenzte Vorgeschichte in der Cassone- und Spallierenmalerei und in der Buchillustration. Von besonderer Bedeutung sind hier die Holzschnitte in der venezianischen Ausgabe des Ovidio Metamorphoseos vulgare von 1497. Parmigianinos Bildfindung hat ihr Vorbild jedoch eher in einem Cassone-Bild. Ein Beispiel aus dem frühen Quattrocento (ehemals Florenz, S. Croce, heute New York, Metropolitan Museum of Art) zeigt Actaeon mit Menschenleib und Hirschkopf. Thimann weist darauf hin, dass die Konzeption von Parmigianinos Freskenzyklus hinsichtlich Ikonographie wie Anbringung noch deutliche Verwandtschaft mit der Cassone- und Spallierenmalerei aufweist. Abgeschlossen wird der erste Abschnitt der Untersuchung mit Beobachtungen zur gattungsgeschichtlichen Tradition mythologischer Freskenzyklen.

Im zweiten, nun ganz Parmigianinos Zyklus gewidmeten Abschnitt kann Thimann anhand der Analyse erhaltener Vorzeichnungen zeigen, dass es zu einem Planwechsel gekommen ist und eine ursprünglich vorgesehene Folge verschiedener Favole nach Ovid, die der Forderung nach abwechslungsvoller Unterhaltung entsprochen hätte, ersetzt wurde durch die Entscheidung für eine einzige Geschichte. Deren Sinn wurde durch die Inschriften, die epigrammatische Gebälkinschrift und die Spiegeldevise RESPICE FINEM, so seine These, stoisch-christlich konkretisiert. Diana wird in dieser Deutung getadelt für ihre aus dem Affekt des Zorns erwachsene Grausamkeit bei der Bestrafung des unschuldig schuldig gewordenen Actaeon. Die Mahnung, sich immer der Endlichkeit zu erinnern wird verbunden mit dem Appell, Vorsicht und Klugheit walten zu lassen, um dem Schicksal tugendhaft zu begegnen. Die funktionale Bestimmung des Camerino in Fontanellato war der Forschung bisher nicht geglückt. Thimanns Deutung legt nahe, dass es sich um ein Studiolo gehandelt hat, obwohl die Ausstattung mit Favole für einen solchen Raum unorthodox war. Er bietet damit eine Alternative zu der These, das Zimmer sei auf die Ehe zwischen dem Auftraggeber und seiner vornehmen Gattin zu beziehen oder sogar ein Frauengemach gewesen, eine These die für sich allerdings die Prominenz der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres auf der vierten Wand ebenso in Anspruch nehmen könnte wie die Tradition, welche die Geschichte von Diana und Actaeon in der Hochzeitsmalerei des Quattrocento hatte.

Anmerkungen:

[1] Ein ausführlicher Bericht über die jüngste Restaurierung des Camerino in Fontanellato ist in den Akten des Kolloquiums veröffentlicht, das anlässlich von Parmigianinos 500. Geburtstag 2002 in Parma stattgefunden hat, und das u. a. der Vorbereitung der opulenten Werkschau des Künstlers in Parma und Wien 2003 gedient hatte. Vgl. Cristina Danti: Parmigianino a Fontanellato. Tecnica e vicende conservative delle Storie di Diana e Atteone, in: Parmigianino e il manierismo europeo. Atti del Convegno internazionale di studi. Parma 13-15 giugno 2002, Mailand 2002. Ausst.Kat. Parmigianino und der europäische Manierismus, Parma, Galleria Nazionale/Wien, Kunsthistorisches Museum 2003.

[2] Ute Davitt-Asmus: Fontanellato II. La trasformazione dell'amante nell'amato, Parmigianinos Fresken in der Rocca Sanvitale, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 31, 1987, 3-57.

[3] Daniel Arasse: Parmigianino au miroir d'Actéon, in: Andromède ou le héros à l'épreuve de la beauté. Actes du colloque international organisé au musée du Louvre par l'Université de Montréal et le service culturel du musée du Louvre le 3 et 4 février 1995, Paris 1996, 255-279.

Rezension über:

Michael Thimann: Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance (= Rekonstruktion der Künste; Bd. 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 288 S., 45 z. Tl. farb. Abb, ISBN 978-3-525-47905-6, EUR 64,00

Rezension von:
Bettina Uppenkamp
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bettina Uppenkamp: Rezension von: Michael Thimann: Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/01/2693.html


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