Geschenktipps zu Weihnachten

Anselm Doering-Manteuffel, Tübingen



Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin: Akademie Verlag 2003

Die Orientierungskrise an der gegenwärtigen Jahrhundertwende, die den Zerfall der bipolaren Ordnung, einen revolutionären technisch-ökonomischen Wandel und die Rückkehr des Krieges nach Europa reflektiert, hat das historische Interesse in neuer Intensität auf die Jahrhundertwende um 1900 und die Kulturkrise im Umfeld des Ersten Weltkriegs gelenkt. Zu den interessantesten Produkten dieses gegenwartsrelevanten Trends in der Geschichtswissenschaft gehört die Arbeit von Bruendel. Sie befragt die breite Diskussion unter den deutschen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg über die politisch-kulturelle Standortbestimmung auf die darin angelegten Zukunftsvorstellungen. Deshalb hat das Buch mit 1914 und der öden Kriegspropaganda, die man gemeinhin mit den "Ideen von 1914" assoziiert, wenig, aber mit der Entwicklung bis 1939 ziemlich viel zu tun. Die anfängliche Vision einer allumfassenden Volksgemeinschaft, in der jetzt auch Sozialdemokraten, Katholiken und Juden ihren gleichberechtigten Platz finden sollten, veränderte sich ab 1916 einerseits in die nationalistisch-völkische Richtung eines Gemeinschaftsdenkens, dem die große Mehrheit der Intellektuellen oblag, das antiindividuell und antiparlamentarisch ausgerichtet war und auf die nationalsozialistische völkisch-rassistische "Volksgemeinschaft" bereits vorauswies. Andererseits entstand die parlamentarisch-demokratische Richtung eines politisch-sozialen Ordnungsdenkens, das die kleine Minderheit überwiegend linksliberaler Intellektueller vertrat und erkennbare Kompatibilität mit dem Ordnungssystem der siegreichen Entente-Nationen aufwies. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der zwanziger Jahre, in denen die parlamentarische und individualgesellschaftliche Ordnung über einem breiten Strom des Antiindividualismus und Antiparlamentarismus errichtet wurde, welcher die Republik vom ersten Tag an unterspülte, bis sie zusammenbrach.


Johannes Heinßen: Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003

Diese Studie versteht sich als Problemgeschichte der Klassischen Moderne, und sie löst den Anspruch überzeugend ein. Sie nimmt ihren Ausgang von der Tatsache, dass die epistemologische Konfrontation von Politikgeschichte und Sozialgeschichte seit den 1960er Jahren ein spezifischer Ausdruck der deutschen (und europäischen) Entwicklung vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit gewesen ist und deshalb der Historisierung bedarf. Sie entfaltet eine Wissenschaftsgeschichte, welche sich "auf die Materialität der Theoriekonzepte jenseits ihrer gesellschaftlichen Legitimierung einlässt" (50) und darüber wissenschaftliche Erkenntnis aus dem Zeitbezug des erkennenden Subjekts und seines soziokulturellen Bezugssystems heraus analysiert. Indem Geschichtswissenschaft weder die "richtige" Politik noch die "richtige" Gesellschaftsordnung in einer bestimmten Zeit ausfindig machen, sondern die Bedingungen von politischem Handeln und gesellschaftlicher Organisation erforschen sollte, stellen sich Rückfragen an die Möglichkeit historischer Erkenntnis im Spektrum der Historischen Kulturwissenschaft. Die Arbeit leistet damit einen bedeutenden Beitrag zur Diskussion über das Selbstverständnis von Geschichtswissenschaft in der Gegenwart. Ihr Untersuchungsgegenstand ist der Wandel der Geschichtskultur im letzten Drittel des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Entstehung der Historischen Kulturwissenschaft in der Krise des Historismus.


Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003

Das ist das beste Buch über die Entstehung der RAF, das es gegenwärtig gibt. Es überwindet jede Art von Mythenbildung und erklärt das Zustandekommen von individuellem Verhalten und ideologischer Fixierung aus biographischen Bezügen. Koenens Protagonisten Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader waren um 1940 geboren und verkörperten den schmerzhaften Wandlungsprozess einer Zwischengeneration, die von der Mentalität des nicht-liberalen Bürgertums in den zwanziger und dreißiger Jahren geprägt war und den Aufbruch in eine andere Welt suchte, ohne zu wissen, wie diese Welt aussehen sollte. Nur eines war ihnen gewiss: sie sollte nicht aussehen wie die westdeutsche Wirklichkeit in den frühen sechziger Jahren, in der sich das "Heil-Hitler-Volk der Deutschen" (Wolf Biermann) behäbig eingerichtet hatte. Koenen entfaltet ein Psychodrama anhand der Lebensgeschichte von Bernward Vesper, dem Sohn eines völkischen Dichters und Partner von Gudrun Ensslin, bevor diese sich Andreas Baader zuwandte. Die radikale Abkehr von der Welt der Eltern führte auf einen Weg, wo Zerstörung zum Selbstzweck wurde und die Zukunft kein Gesicht hatte. Indem Koenen diese dramatische Konstellation aus den Lebensgeschichten entwickelt, zeigt er die "Urszenen des deutschen Terrorismus" als historische Tragödie sowohl der Terroristen selbst als auch der Nachkriegsgesellschaft. Ein Buch, das Verständnis weckt, indem es Distanz wahrt.


Peter Merseburger: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002

Diese Biographie ist gleichermaßen ein zeitgeschichtliches Dokument und ein politisch-literarisches Meisterwerk. Peter Merseburger, Jahrgang 1928, bringt als kritischer Intellektueller und engagierter Journalist viel Einfühlungsvermögen auf für den homo politicus Willy Brandt, Jahrgang 1913. Er schildert Brandts Lebensweg als einen langen Lernprozeß, dessen Wendungen und Kehren aus den Zeitumständen zu erklären sind - sein Engagement im Spanischen Bürgerkrieg, das skandinavische Exil und seine politische Orientierung nach dem Krieg an der Seite westlicher sozialliberaler Intellektueller zu einer Zeit, als die deutsche SPD noch im Magnetfeld ihrer sozialistisch-demokratischen Tradition verblieb. Brandt war durch die Einflüsse der Jugendzeit befähigt zu kosmopolitischem Denken, und er blieb zugleich ein deutscher Patriot. Seine persönliche Überzeugungskraft wurzelte in einem unverbrüchlichen Freiheitssinn. Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus und DDR-Sozialismus waren ihm gleichermaßen Feind, und es war wohl kein Zufall, dass er in West-Berlin nach dem Mauerbau seine politische Statur gewann, die ihn zum Kanzler der Entspannungspolitik qualifizierte.
Das Buch basiert auf breiter Recherche, die es Merseburger ermöglicht, seine kritische Sympathie für Brandt an den Quellen zu überprüfen und dem Leser eine abgewogene, gedankenreiche und zugleich unterhaltende Lektüre zu bieten.