sehepunkte 3 (2003), Nr. 12

Volker Scior: Das Eigene und das Fremde

Das vorliegende Buch von Volker Scior wurde als Dissertation bei Hans-Werner Goetz in Hamburg verfasst, doch ist es, wie der Autor selbst anmerkt, auch deutlich vom Paderborner Graduiertenkolleg "Reiseliteratur und Kulturanthropologie" beeinflusst. Scior will "im Vergleich der behandelten Texte Möglichkeiten hochmittelalterlicher Vorstellungen vom Eigenen und Fremden" aufzeigen, "um das in der Forschung vermittelte Bild einer starren mittelalterlichen Auffassung von Fremdheit und Identität zu überprüfen" (28).

Sein Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass zahlreiche jüngere Arbeiten zum Problem von Alterität und Identität im Mittelalter die älteren Versuche, aus den erhaltenen Berichten meist christlicher Autoren die Lebenswirklichkeiten fremder Völker zu rekonstruieren, erstens kritisieren und zweitens eine Berücksichtigung des Konstruktionscharakters von Identität und Fremdheit einfordern, ohne dies an größeren Quellencorpora auch durchzuführen. Eben dies soll die vorliegende Arbeit für die drei "norddeutschen" Chronisten Adam von Bremen, Helmold von Bosau und Arnold von Lübeck exemplarisch leisten. Um es vorweg zu nehmen: Scior erreicht das selbst gesteckte Ziel, ja gelangt teilweise sogar darüber hinaus.

Für die gewählte Fragestellung baut er eine durchaus sinnvolle Versuchsanordnung auf: Er beschränkt sich wie gesagt auf die drei hochmittelalterlichen norddeutschen Chronisten Adam von Bremen, Helmold von Bosau und Arnold von Lübeck. Drei umfangreiche Chroniken mit in etwa demselben räumlichen Bezug, nämlich dem nördlichen Reich und seinen Nachbarn im Norden und Nordosten, aus einem Zeitraum von etwa 130 Jahren bilden zum einen ein hinreichend breites Quellencorpus, um zu Schlussfolgerungen allgemeinerer Art zu gelangen, zum anderen ist die Vergleichbarkeit groß genug, um die drei Autoren inhaltlich aufeinander beziehen zu können. Sie ergibt sich weniger daraus, dass die jüngeren Autoren ihre jeweiligen Vorgänger als Vorlagen benutzt hätten als vielmehr daraus, dass sich durch die räumliche Nähe der drei Autoren ähnliche Gruppen und Räume als Träger von Selbst- und Fremdbeschreibungen anbieten, deren Entwicklung beschrieben und deren Veränderungen erklärt werden können.

Der Tatsache, dass Selbst- und Fremdzuschreibungen zunächst höchst subjektiv konstruiert sind, trägt Scior dadurch Rechnung, dass er nach einem einleitenden Kapitel über Forschungsstand und eigenes Vorgehen die drei Autoren getrennt voneinander und in chronologischer Reihenfolge behandelt. Dabei unterwirft er sie alle dem gleichen Frageraster, indem er zunächst den Forschungsstand zu Autor und Werk Revue passieren lässt und danach erst nach den Selbst-, dann nach den Fremdzuschreibungen fragt. Innerhalb der Selbstzuschreibungen wird stets noch einmal unterschieden nach solchen, die sich auf eine Identitätssuche innerhalb der christianitas beziehen und solchen, die sich aus der Verortung im weltlichen Bereich - subsumiert unter den Stichwörtern "Reich und Region" - herleiten.

Ansonsten entgeht Scior aber der Versuchung einer zu strengen Schematisierung, indem er die Schwerpunkte, um die sich die Selbst- und Fremdzuschreibungen der einzelnen Autoren gruppieren, jeweils individuell herausarbeitet. So wird die Bedeutung der "legatio gentium borealium" für Adam von Bremen gewürdigt, während etwa bei Arnold von Lübeck auf die Kreuzzugserfahrungen als Hintergrund für seine Konstruktionen von Fremdheit abgehoben wird.

Sciors Hauptergebnis ist zum einen der Nachweis, dass die Konstruktion von Identität und Alterität nur in ihrem Wechselspiel und als Konstruktion adäquat beschrieben werden kann. Die Folge einer solchen Sichtweise ist nicht nur eine stellenweise neue Interpretation altbekannter Texte - beispielhaft sei hier seine Wertung der Bücher III und IV bei Adam genannt, die er als organischen Teil der als Spiegel für den neuen Hamburger Erzbischof Liemar interpretierten Gesta plausibel machen kann -, sondern auch eine Schärfung des Blickes für Nuancen in der Beschreibung des Eigenen und des Fremden. Hier liegt ein zweites wichtiges Ergebnis der Arbeit, dass nämlich in der Selbstwahrnehmung der Autoren fast immer religiös begründete Identitäten wichtiger sind als ethnische und dass stets die kleinräumige, alltäglich erfahrbare Gruppenidentität eine ungleich höhere Verbindlichkeit hat als die größere, nur kulturell vermittelbare, und das für den gesamten Untersuchungszeitraum.

Verwunderlich ist es allerdings, dass Ergebnisse, die sich derart auffällig mit den Voraussagen der Systemtheorie Luhmannscher Prägung decken, nicht auf diese rückbezogen werden, zumal sich Scior ansonsten als durchaus "theoriefest" erweist.

Ein zweites Monitum ist die Einschränkung auf die genannten drei Autoren: Man vermisst Albert von Stade oder auch Thietmar von Merseburg, der immerhin in vergleichbarer Umgebung auf einem Missionsposten im Slawenland schrieb und im Vergleich mit den behandelten Autoren mögliche Akzentverschiebungen durch Kirchenreform und Investiturstreit zu Tage gefördert hätte.

Dies ändert aber nichts daran, dass die gestellte Frage nach dem Eigenen und dem Fremden in hochmittelalterlicher Wahrnehmung stringent, mit sinnvoller Quellenbeschränkung und mit plausiblen Ergebnissen behandelt wird. Demgegenüber fallen einige handwerkliche Mängel weniger ins Gewicht; es ist jedoch offenkundig, dass sie vor allem dort auftreten, wo Scior sich an den Rändern seines eigentlichen Themas bewegt. So wird etwa für Wilhelm von Tyrus statt auf die zweibändige Edition von Huygens auf die veraltete Ausgabe in den Recueil des historiens des croisades zurückgegriffen, während das Auffinden der zitierten diplomatischen Quellen echte Probleme bereitet, da man die von Theuerkauf 1988 benutzte Zitationsweise wohl kaum als allgemein anerkannt bezeichnen kann.[1] Auch sollte Erzbischof Liemar nach der Meinung Adams von Bremen sicher kein "quarta (!) evangelista" (65 und 71) werden.

25 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis und ein fünfseitiges Register runden das Werk ab. Hierzu ist anzumerken, dass das Register sowohl reale als auch virtuelle Orte und Personen wie etwa die mythische "patria feminarum" oder auch allgemein "Fabelwesen" erfasst. Einzelne Sachlemmata wie "Zwölfbistumsplan" wirken dagegen eher willkürlich und deuten auf ein umfänglicher geplantes, dann aber nicht realisiertes Sachregister.

Alles in allem ist festzuhalten, dass wer sich in Zukunft mit der Frage von Identität und Alterität im Hochmittelalter oder auch mit einem der drei behandelten Chronisten befasst, an Sciors Buch nicht vorbeikommen wird.

Anmerkung:

[1] Gerhard Theuerkauf: Urkundenfälschungen des Erzbistums Hamburg-Bremen vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60 (1988), 71-140, hier 140.

Rezension über:

Volker Scior: Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 4), Berlin: Akademie Verlag 2002, 375 S., ISBN 978-3-05-003746-2, EUR 59,80

Rezension von:
Christian Klein
DFG Graduiertenkolleg 'Europäische Geschichtsdarstellungen', Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Christian Klein: Rezension von: Volker Scior: Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck, Berlin: Akademie Verlag 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/12/2720.html


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