sehepunkte 3 (2003), Nr. 12

Laurence B. Kanter / Tom Henry: Luca Signorelli

Auch diese Rezension könnte mit einem der üblichen Vasari-Zitate eingeleitet und damit der entwicklungsgeschichtliche Topos perpetuiert werden, durch den Luca Signorelli seit je nur als Vorläufer Michelangelos - wenngleich als besonders begnadeter - betrachtet worden ist.

Laurence Kanter und Tom Henry vermeiden in ihrer Signorelli-Monographie derartige ehrerbietigen Zugeständnisse an die ältere Kunstgeschichte. Vielmehr bemühen sich die einschlägig profilierten Autoren, ein neues Bild des Künstlers und seiner Tätigkeit zu zeichnen, das sich weniger über ein projektives, auf Michelangelo hingespanntes "noch nicht" als dagegen über eine detail- und dokumentverliebte Analyse des jeweiligen historischen Entstehungsrahmens definiert.

Hierzu ist der Text dreigeteilt worden: einer einleitenden Vita folgt der Tafelteil mit einem kommentierenden Text und schließlich der Werkkatalog. Diese drei Teile sind nun nicht gemeinschaftlich von den beiden Autoren verfasst worden, sondern jeder zeichnet persönlich für "seinen" Bereich verantwortlich. Während Laurence Kanter die Kapitel zu Leben und Werk erstellte, sind Tom Henry der Kommentar zu den Tafeln und der Katalog zu verdanken.

In seiner Vita Signorellis verfolgt Kanter den Künstler über dessen gesamtes Schaffen so weit möglich von Jahr zu Jahr und korreliert dabei sowohl neue als auch bereits bekannte Dokumente zum Leben des Malers mit Daten und Fakten zum Werk. Hinter seiner Einteilung in drei Kapitel ("Die ersten Jahre", "Monteoliveto und Orvieto" sowie "Die künstlerische Reife") verbirgt sich dabei unausgesprochen die Annahme, dass Signorelli wie alle 'großen' Künstler ein Frühwerk, eine "klassische" Phase und ein Spätwerk ausgebildet habe. Dementsprechend ist allen drei Werkabschnitten nahezu gleicher Raum in der Darstellung gegeben, allein den "ersten Jahren" hat Kanter gegenüber den beiden weiteren Kapiteln sechs Extraseiten spendiert.

Denn in der Tat stellt sich bis heute höchst kontrovers die Frage, welche Bedeutung der frühe Signorelli innerhalb der Kunst des späten Quattrocento hatte, bis er mit den monumentalen Fresken in Orvieto zu einer zentralen Gestalt der Kunstgeschichtsschreibung wurde. Doch in wie weit reflektiert die spätere Historiographie wirklich die reale Bedeutung des Malers?

Kanter zeichnet Signorelli als Spätentwickler, der erst mit Mitte dreißig greifbar wird, dann aber sofort durch seine beeindruckende Individualität und Qualität unverwechselbar ist.

Mit Siebenmeilenstiefeln durchschreitet das Einleitungskapitel mögliche Kontakte zur Verrocchio-Werkstatt, die dabei als eine Art diffuser Talentschmiede für alle bedeutenden Maler des späten Quattrocento herhalten muss. Genau so oberflächlich wird die Frage nach Signorellis Anteil an den Sixtina-Fresken im Umkreis Peruginos mit den bekannten Argumenten abgehandelt, ohne dass hierdurch die beteiligten Maler näher konturiert würden. Erkenntnisse der jüngsten Restaurierungskampagne (1998 abgeschlossen) zur Technik der Fresken werden unglücklicherweise nicht einbezogen (hierzu jetzt: De Luca, Maurizio: La tecnica d'esecuzione e il restauro del ciclo pittorico quattrocentesco nella Cappella Sistina, in: La Sistina e Michelangelo: storia e fortuna di un capolavoro [Ausstellungskatalog Rimini 2003 und Savona 2004], Milano 2003, 77-82). Das Kapitel schließt sodann mit den Werken, die im Auftrag oder kulturellen Umfeld Lorenzo de Medicis entstanden.

Hier wie auch in den folgenden Kapiteln vermisst der Leser Schwerpunkte. Leider legt Kanter wenig Wert auf schlüssige argumentative Hinführungen, wodurch für den Leser nachvollziehbar das Problem benannt und hierauf konzentriert eine mögliche Lösung herausgearbeitet würde. Stattdessen distanziert Kanter den Leser von "seinem" Signorelli und breitet nur seine Sicht mehr oder weniger apodiktisch aus, wobei der durchgängig hymnische Tenor des italienischen Ausgangstextes leider auch noch unreflektiert ins Deutsche übertragen worden ist.

Fokus ist von Anfang an eine reine Formalgeschichte, welcher Werke wie der zerstörte Berliner "Pan" letztlich in ihrer intellektuellen Tiefe fremd sind. Vermerkt wird diesbezüglich nur, dass sich um sie einstmals eine humanistische Diskussion entspann.

Wie also sollte man das Buch von Kanter und Henry lesen? Die von Kanter gezeichnete Vita hangelt sich von Werk zu Werk, unterschiedslos, ob es sich um Meilensteine im Œuvre Signorellis oder gar der Malerei des späten Quattrocento handelt, oder doch nur um provinzielle Wiederholungen einer populären Bildformel, an denen das Œuvre nicht gerade arm ist. Die diesbezüglich an den Tag gelegte Qualitätsblindheit verhindert in der Folge oftmals, dass die eigentlichen Probleme des Œuvres benannt werden. Aufgrund der ausschließlich werkimmanenten Perspektive, die vielfach ohne Vergleiche zu Arbeiten der Zeitgenossen auskommt, ergibt sich letztlich kein Zeitbild, wie eine Monographie dies allerdings idealiter zeichnen sollte.

Ganz anderer Natur sind dagegen die knappen Ausführungen Tom Henrys zu den Tafeln: hier findet sich kompetent und sprachlich überzeugend geschrieben auf einmal auch eine Einbettung Signorellis in seine Zeit und sein Umfeld. Henry wertet und bezieht prägnant Stellung zu Forschungsproblemen. Zusammen mit dem anschließenden Katalog ist dies die beste Hälfte des Buchs, die sich aber per definitionem eher an den Fachmann als an den geneigten Leser wendet. Fast hat man hier den Eindruck, dass die Rollen bei der Vergabe der Buchtexte durch eine böse Fee vertauscht worden sind.

Doch erweist sich die Aufteilung des Textes auf zwei Autoren noch in einer weiteren Hinsicht als problematisch: denn Kanter und Henry stimmen keineswegs miteinander überein und wiederholt findet sich die Anmerkung, dass der eine Autor dem anderen widerspricht. Gemäß der Formel "zwei Kunsthistoriker, drei Meinungen" verbleibt der Leser dadurch am Ende eher mit zwei Büchern als mit einem.

Die Aufgabe einer Künstlermonographie ist vor allem, einen Künstler facettenreich vorzustellen und dabei den aktuellen Forschungsstand zu präsentieren. Aber wo, wenn nicht an seinen monumentalen Freskenzyklen in Monteoliveto - vor allem jedoch in Orvieto - wäre Signorelli als Künstler exemplarisch greifbar? Eben das Hauptwerk in Orvieto ist durch die jüngste Restaurierungskampagne und die begleitende Publikation umfassend aufgearbeitet worden. Die diesbezüglichen Detailergebnisse werden wohl auch präsentiert, aber dies in einer Form, die es dem Leser ohne die Restaurierungspublikation unmöglich macht, die Argumentation nachzuvollziehen. Hier wie auch im Falle des Zyklus von Monteoliveto hätte man sich Schemata gewünscht, welche die komplexen räumlichen und inhaltlichen Bezüge hätten verdeutlichen können (zuvor in der Restaurierungspublikation durchaus vorhanden: La Cappella Nova o di San Brizio nel duomo di Orvieto, a cura di Giusi Testa, Milano 1996. An dieser Stelle sei eine weitere Irritation im Umgang mit dem Band angemerkt: während Frau Testa in der italienischen Ausgabe der Monographie für den Text bezüglich der Fresken von Monteoliveto und Orvieto verantwortlich zeichnet, taucht ihr Name in der vorliegenden, angeblich textidentischen deutschen Fassung nicht auf). Derartig wichtige Apparate fehlen dem opulent ausgestatteten Band, der stattdessen mit zum Teil geschmäcklerischen bis unsinnigen Detailaufnahmen zu prunken versucht.

Gerade die mangelnde Aufarbeitung des zentralen Bereichs um die Cappella di San Brizio schmälert letztlich den Wert der Publikation, die erstmalig - und das sei hier eigens betont - das Werk im Katalog umfassend und kritisch präsentiert.

Wie schon durch ihre älteren eigenständigen Publikationen zu Signorelli belegen die Beiträge der beiden Autoren im vorliegenden Band, wie sehr das Forschungsfeld zur mittelitalienischen Malerei "um 1500" in Bewegung ist. Wenngleich die Monographie vor diesem Hintergrund zahlreiche Präzisierungen im Detail erbringt, vermag sie doch leider kein überzeugendes Gesamtbild des Künstlers und seines Werks zu vermitteln.

Man könnte dies leicht als symptomatisch für die seit Jahren ausgerufene Krise der Künstlermonographie nehmen, doch erscheint abschließend bemerkt eher das Objekt der Studien - Signorelli und sein Œuvre - denn das Genre an sich als Problem. So unvoreingenommen es zunächst auch klingen mag, sich werkmonographisch einem Œuvre wie demjenigen Signorellis zu nähern, sollte dabei dennoch nie der vergleichende Blick auf den größeren Kontext aufgegeben werden. Erst hierdurch lässt sich unmissverständlich erkennen, warum Signorelli nach Vollendung der Orvietaner Fresken nur noch für die umbrische Provinz tätig war und warum man diese Tätigkeit weder mit einem persönlichen Spätstil verwechseln, noch als Signorellis Vorwegnahme der ersten Welle des Manierismus aufwerten sollte. Dies schmälert keineswegs Signorellis Leistung, sondern lässt vielmehr klarer seine Bedeutung innerhalb der Malerei des späten Quattrocento konturieren, für die er in der Tat eine Monographie verdient.

Rezension über:

Laurence B. Kanter / Tom Henry: Luca Signorelli, München: Hirmer 2002, 271 S., 84 Farb-, 276 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-9360-2, EUR 99,00

Rezension von:
Johannes Myssok
Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Myssok: Rezension von: Laurence B. Kanter / Tom Henry: Luca Signorelli, München: Hirmer 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/12/1850.html


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