Rezension über:

Hans Ost: Melodram und Malerei im 18. Jahrhundert. Anton Graffs Bildnis der Esther Charlotte Brandes als Ariadne auf Naxos "Auf ewig verlassen...", Kassel: Verlag M. Faste 2002, 108 S., 27 Abb., 16 Faksimiles, 1 CD-ROM, ISBN 978-3-931691-29-5, EUR 10,00
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Rezension von:
Joachim Rees
Forschungszentrum Europäische Aufklärung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Alexis Joachimides
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Rees: Rezension von: Hans Ost: Melodram und Malerei im 18. Jahrhundert. Anton Graffs Bildnis der Esther Charlotte Brandes als Ariadne auf Naxos "Auf ewig verlassen...", Kassel: Verlag M. Faste 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12 [15.12.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/12/3333.html


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Hans Ost: Melodram und Malerei im 18. Jahrhundert

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Aus der Unterhaltungsindustrie der Gegenwart ist das Phänomen hinlänglich bekannt: Stoffe, Motive und Figuren wandern von einer Gattung und einem Medium zum nächsten. "Multimediales cross-over" nennen dies die Experten. Die damit bezeichnete Praxis reicht indessen weit vor das Zeitalter moderner Massenmedien zurück und fand wohl erstmals im 18. Jahrhundert breite Anwendung, also in einer Phase, als intensiv über die gattungsspezifischen Eigenarten von Literatur, Musik, bildenden und darstellenden Künsten nachgedacht wurde und diese Genres in experimenteller Weise miteinander kombiniert wurden.

Hans Ost widmet sich in seiner Studie einem solchen gattungsübergreifenden Transformationsprozess eines literarischen Stoffes und dessen Verkörperung in Gestalt einer weiblichen Protagonistin. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln auf Schloss Wahn befindliche Kopie eines Gemäldes von Anton Graff (1736-1813). Das Bild zeigt die Schauspielerin Esther Charlotte Brandes (1742-1786) in der Rolle der Ariadne auf Naxos, die sie in dem gleichnamigen, am 27. Januar 1775 im Schlosstheater zu Gotha uraufgeführten Melodram verkörpert hat. Das aus zwei Akten bestehende Stück basierte auf einer vom Gatten der Schauspielerin, Johann Christoph Brandes (1735-1799), besorgten Prosabearbeitung des Ariadne-Stoffes, zu der Georg Benda (1722-1795), Hofkapellmeister in Gotha, die Musik lieferte. Gemeinsam schufen sie mit "Ariadne auf Naxos" das erste deutschsprachige Melodram, eine Bühnengattung, die sich durch die Kombination von rezitiertem Text und Instrumentalmusik auszeichnet. Übernommen wurde dieser Typus aus Frankreich, wo Jean-Jacques Rousseau mit seiner vertonten "Scène lyrique Pygmalion" (Uraufführung 1770) das Muster vorgegeben hatte.

Der "Ariadne auf Naxos" war nach ihrer Gothaer Uraufführung auch an anderen Spielstätten ein sensationeller Erfolg beschieden. Begeisterte Theaterfreunde in Dresden gaben bei dem dort ansässigen Porträtmaler Anton Graff im Oktober 1775 ein lebensgroßes Bildnis der Charlotte Brandes in ihrer neuen Paraderolle in Auftrag. Es wurde der Schauspielerin, die zuvor in Graffs Atelier eigens alle Bühnenposen pantomimisch nachgestellt hatte, am Neujahrstag 1776 überreicht. Anhand der überlieferten Schriftquellen (darunter Ausstellungsberichte, zeitgenössische Briefe und nicht zuletzt die umfangreiche Autobiografie von Johann Christoph Brandes) zeichnet Ost den Entstehungsprozess und das weitere Schicksal dieses Porträts, das als erstes repräsentatives Rollenbildnis in der deutschen Malerei gelten kann, ebenso akribisch nach wie das Verhältnis der überlieferten Kopien zu diesem Bildnis (29-40).

Die von Ekhart Berckenhagen in seinem Werkkatalog zu Anton Graff (1967) vertretene Auffassung, das Kölner Bild stelle die Erstfassung des Rollenporträts dar, kann nun endgültig als obsolet betrachtet werden. Das Gemälde weist nicht nur erhebliche Differenzen zu dem von Heinrich Sintzenich vor dem Original gearbeiteten Reproduktionsstich auf. Eine im Jahre 2000 vorgenommene grundlegende Restaurierung des Kölner Bildes förderte auch den Befund zu Tage, dass die Darstellung der Charlotte Brandes auf einer älteren, wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert stammenden Leinwand angelegt worden ist, die möglicherweise eine mythologische Waldszene zeigte. In Verkennung dieses Sachverhalts wurden bei einer frühen Restaurierung die eigentlich zu Ariadne gehörenden Meeresgestade entfernt und der Waldhintergrund freigelegt. Die Spuren von Graffs Original verlieren sich indessen bereits Ende des 18. Jahrhunderts, nachdem Brandes' Versuche, das Werk an einen fürstlichen Sammler zu verkaufen, gescheitert waren. Sowohl das Kölner Bild als auch zwei weitere Varianten des Porträts im Mannheimer Reiss-Museum müssen als Kopien von fremder Hand gelten.

Der Kernbereich der Untersuchung gilt dem Nachweis der unterschiedlichen Traditionszusammenhänge, in denen das Porträt der Schauspielerin angesiedelt ist und den diversen Inspirationsquellen, aus denen sich Graffs Bildfindung speist. Ost betont die besondere Affinität der neuen Bühnengattung Melodram zur "Attitüde", also zur Auflösung von Handlung in der Abfolge einzelner Bilder, in denen die Schauspieler zu plastischen Gestalten stilisiert wurden (45). Dass die Inszenierungsform von vorgängigen bildlichen Darstellungen stark beeinflusst war, zeigt sich im Fall der "Ariadne" etwa in einer Darstellung von Georg Melchior Kraus im Gothaer Theaterkalender von 1776, wo Charlotte Brandes in einer Pose gezeigt wird, die deutlich an ein Rollenporträt der Mademoiselle Duclos von Nicolas de Largillière gemahnt und das in einem Stich von Louis Desplaces von 1714 europaweite Verbreitung gefunden hatte. Der Reiz der Bühnengattung Melodram dürfte also zu einem nicht geringen Teil im Wiedererkennen "lebender Bilder" bestanden haben.

In einer vergleichenden Sichtung des Rollenporträts von Largillière, der Vignette von Kraus und Graffs Bildnis arbeitet Ost die spezifischen Qualitäten des letztgenannten Werkes präzise heraus: Bei der Festlegung der für das Porträt gültigen Pose verschaffte sich eine ästhetische Norm Geltung, von der sich die vorgenannten Werke noch unberührt zeigen. Wo die französische Actrice des frühen 18. Jahrhunderts noch mit gestischer Emphase ihrer Sehnsucht nach dem entschwindenden Theseus Ausdruck verlieh, da hält die Ariadne des Jahres 1775 schmerzüberwältigt in ihrem Taumel inne, der sie im nächsten Moment in den Abgrund stürzen wird.

Diese divergierenden Rolleninterpretationen führt der Autor weniger auf einen - ohnehin kaum mehr zu rekonstruierenden - Wandel in der Aufführungspraxis oder gar den individuellen Habitus der jeweiligen Schauspielerinnen zurück, sondern auf ein neuen ästhetischen Kanon, der auch die Bühnenfigur Ariadne neu kodierte: "Graff hat [...] mehr und anderes gemalt als er bei der in betreffender Rolle posierenden Charlotte momentan mit Augen sehen konnte" (80). Dieses Andere war die bildliche Versinnlichung eines Zustandes, "wo Empfindung und Überlegung aufhöret" und der eben darum die Bildung höchster Schönheit ermögliche, wie es Johann Joachim Winckelmann in der "Geschichte der Kunst des Altertums" (1764) für die Niobidengruppe (heute in den Uffizien) festgestellt hatte. Der Rekurs auf die kanonische Skulpturengruppe, die Winckelmann ihrerseits von der griechischen Tragödienpraxis beeinflusst wähnte, wurde in Graffs "Ariadne" durch das "altgriechische" Kostüm und die Haartracht der Protagonistin zeichenhaft untermauert. Die zirkelhafte Schließung dieses Verweissystems unterstreicht zugleich die ikonologische Komplexität des Rollenporträts: "Das Geschöpf eines antiken Bildhauers wird mithilfe der Bildungsarchäologie auf dem modernen Theater verlebendigt und anschließend vom Maler wieder in ein Werk der bildenden Kunst zurückverwandelt." (79). Die dabei betriebene affektive Neutralisierung der Hauptfigur ist zugleich Bedingung für ihre reflexive Unergründlichkeit: Von Graffs "Ariadne" führt ein direkter Weg zu Anselm Feuerbachs "Iphigenie", beide Sehnsuchtsfiguren zeigen sich verbunden durch das sentimentalische Bewusstsein einer unwiderruflichen Entzogenheit des griechischen Kunstideals (82).

Dass sowohl die Rezeption von Graffs Rollenporträt als auch die Aufnahme des Melodrams von einer hochgestimmten Kunsterwartung im Bannkreise Winckelmannscher Griechenbegeisterung beflügelt worden sind, dürfte außer Zweifel stehen. Immerhin lässt Ost auch einige nüchterne Rezeptionszeugnisse zu Wort kommen: Herzog Karl August von Sachsen-Weimar sah sich bei Betrachtung des Bildnisses sehr prosaisch an eine "Frau mit Kopfweh" erinnert, der Komponist Karl Friedrich Zelter fasste den dramaturgischen Verlauf von Brandes' "Ariadne auf Naxos" in dem Verdikt zusammen: "Erst schläft sie, dann schimpft sie und endlich stirbt sie." (79)

Längst ist das Melodram aus dem gängigen Konzertrepertoire wieder verschwunden. Eine Einspielung des Stücks mit dem Sinfonieorchester Wuppertal unter der Leitung von Peter Gülke, der auch einen instruktiven Exkurs zur musikgeschichtlichen Stellung der "Ariadne auf Naxos" beigesteuert hat (99-101), ist der Publikation auf CD beigefügt - eine gelungene Idee, die bei Veröffentlichungen im Grenzbereich von Malerei und Musik Schule machen sollte.

Weniger gelungen wirkt der disparate Aufbau des Buches, der die Lektüre und damit den Einstieg in die Thematik unnötig erschwert. Für die Untersuchung wichtige Bildbeispiele finden sich ohne erkennbaren Grund an mehreren Stellen des Bandes verstreut, zusätzlich getrennt durch die Reproduktion des gedruckten Libretto von 1778, dessen Oktavseiten als farbige Faksimiles eine gegenüber den Abbildungen übertrieben wirkende optische Opulenz erhalten (9-24). Die einzelnen thematischen Abschnitte der Untersuchung werden vielfach durch Blankoseiten separiert, Fußnoten hinken durch einen ungeschickten Seitenumbruch dem Haupttext hinterher, sodass der Lesefluss immer wieder ins Stocken gerät. Die nachlässige Gestaltung verwundert umso mehr, als im Impressum Elmar Buck, Leiter der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln, eigens für die "Art Direction" des Bandes verantwortlich zeichnet.

Die beigegebene CD hilft über diese Misslichkeiten hinweg. Das Hören des Melodrams geht wie von selbst in ein szenisches Sehen über. Die Betrachtung von Graffs Bildnis der Esther Charlotte Brandes als Ariadne mit musikalischer und rezitativer Untermalung mündet in nichts weniger als in die Verlebendigung eben dieses Bildes - ein selten gewordener Pygmalion-Effekt im Zeitalter der ubiquitären technischen Reproduzierbarkeit von Kunst, Wort und Musik.

Joachim Rees