sehepunkte 3 (2003), Nr. 4

Rezension: Der Europäische Sonderweg

Der Fortschrittsoptimismus der Modernisierungstheorien ist bedächtiger Skepsis gewichen. Nach den diversen Krisenerfahrungen der letzten Jahrzehnte könnte sich der einstige Königsweg des Westens hin zu Konsum, Freiheit und Wohlstand ebenso gut als Sackgasse von Überbevölkerung, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung herausstellen. Damit erscheint die fundamentale Transformation der europäischen Gesellschaften in den letzten zwei Jahrhunderten in einem anderen Licht: Nicht mehr die Unterentwicklung der anderen erscheint erklärungsbedürftig, sondern die Tatsache, dass aus den verschiedenen Agrargesellschaften und -zivilisationen dieser Erde genau die europäische samt ihrem Ableger in Nordamerika eine eigene Entwicklung einschlug. Diesem "europäischen Sonderweg" widmet sich nunmehr eine eigene Schriftenreihe, die von dem St. Gallener Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle zusammen mit der Stuttgarter Breuninger Stiftung herausgegeben wird und Ergebnisse aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Disziplinen zusammentragen will, um dieses Phänomen zu erklären. Seit Beginn der Reihe vor drei Jahren sind bislang acht Einzelbeiträge erschienen, die kostenlos über die Breuninger Stiftung (www.breuninger-stiftung.de) zu beziehen sind.

Grundlagen und Ziele des Projekts sind Gegenstand des einleitenden Essays von Rolf Peter Sieferle über den "Europäischen Sonderweg: Ursachen und Faktoren". Das darin ausgebreitete Argument ist in wesentlichen Zügen bereits aus früheren Veröffentlichungen Sieferles bekannt: Der europäische Sonderweg ist für ihn vor allem eine umweltgeschichtliche und physikalisch-energetische Sonderentwicklung. Die Zauberformel heißt 'sozialer Metabolismus', definiert als die jeweilige "Form, die der Stoffwechsel zwischen der Gesellschaft und ihrer physischen Umwelt annimmt" (Sieferle, 12). Der Energiestoffwechsel ist auch die Grundlage, auf der die historisch und kulturell so unterschiedlichen Zivilisationen der Welt überhaupt erst zum Idealtypen der "Agrarzivilisation" zusammengefasst werden können. Gemeinsam ist ihnen allen nämlich ihre mehr oder weniger ausgeprägte und kulturell modifizierte Abhängigkeit von der Sonnenenergie. Zwar soll die Schriftenreihe methodisch und thematisch breit Ursachen für den europäischen Sonderweg liefern und dabei auch epidemiologische, demographische, weltanschauliche, institutionelle und natürliche Entwicklungsbedingungen der verschiedensten Gesellschaften analysieren. Doch das eindeutige Abgrenzungskriterium zu anderen Zivilisationen und somit die Hauptursache für den Sonderweg ist im "fundamentalen Wandel der Beziehungen zur natürlichen Umwelt" (Sieferle, 20) zu sehen, indem solare Energie durch die Nutzung fossiler Energieträger zunächst ergänzt und im Laufe der Zeit weitgehend ersetzt wurde. Kulturelle und soziale Prozesse sind insbesondere in ihrer Wechselwirkung mit ihrer naturalen Umgebung interessant, ein Schwerpunkt der Schriftenreihe liegt demnach vor allem auf jenen Faktoren, die nahezu unmittelbar mit der Basistransformation des Energiesystems verbunden sind.

In die Praxis umgesetzt wird diese Vorgabe des Herausgebers in den Bänden 2 und 3 der Reihe. Verena Winiwarter und Christoph Sonnlechner erarbeiten in ihrer Studie über den sozialen Metabolismus der vorindustriellen Landwirtschaft in Europa ein Modell der allgemeinen Grundlagen des energetischen Stoffwechsels von Agrargesellschaften, während Fridolin Krausmann die diachrone Entwicklung des Energiestoffwechsels am österreichischen Beispiel aufzeigt und darin die Thesen Sieferles im Wesentlichen bestätigt. Beiden Darstellungen ist gemeinsam, dass sie Erkenntnisse aus den verschiedensten Disziplinen in ihre Untersuchungen einbeziehen und versuchen, die komplexen Austauschbeziehungen zwischen Umwelt und Gesellschaft in einer Vielzahl von Grafiken, Modellen und Diagrammen zu visualisieren. Text und Grafiken stehen in engem Zusammenhang, und so ist es eine große Erleichterung, dass Winiwarter und Sonnlechner die wichtigsten Schaubilder ihres "umwelthistorischen System-Modells" in einem eigenen, farbig gestalteten Heft zusammengestellt haben. Gerade dem agrarökologisch nicht vorbelasteten Leser wird der Zugang zu den unterschiedlichen grafischen Darstellungen erheblich erleichtert, zumal deren Beschreibungen im Text den Popularisierungsgedanken der Schriftenreihe nicht immer in wünschenswerter Weise widerspiegeln. So zeichnet sich das in verschiedene Teilmodelle aufgefächerte Systemmodell von Winiwarter und Sonnlechner durch seine empirische "Basis von Quellen" aus, "auf deren Grundlage mit definierten Relationen und Parametern in jeweils der Variabilität der Bedingungen angepaßtem Abstraktionsgrad modelliert wird" (Winiwarter/Sonnlechner, 30).

Mit anderen Worten: Die Quellengrundlage der Daten des zwischen 1820 und 1840 für die Habsburgermonarchie erstellten Franziszäischen Katasters wird für einige besonders gut dokumentierte Orte in verschiedenen Naturräumen im mikrohistorischen Zugriff aufbereitet und zum Systemmodell abstrahiert, das alle relevanten Faktoren und Beziehungen innerhalb des Agrarökosystems abbildet. Dabei greifen die beiden Autoren - zum Teil wörtlich - auf die umfangreichen Arbeiten der Wiener Projektgruppe "Umweltgeschichte" zurück. Winiwarter und Sonnlechner gehen von einer Koevolution sozialer und naturaler Bedingungen der Landwirtschaft aus, weshalb sie der Diskussion natürlicher Rahmenbedingungen wie Klima und Boden breiten Raum gewähren. Zwischen der Dynamik der natürlichen Umwelt und der Dynamik der Bevölkerungsentwicklung vermittelt im Modell das institutionelle Gefüge des landwirtschaftlichen Produktionssystems (zum Beispiel die jeweilige Form der Agrarverfassung mit den jeweiligen Rechts- und Abhängigkeitsverhältnissen). Neben diesen drei Basiselementen nimmt der Hof als zentrale Produktions- und Reproduktionseinheit eine besondere Stellung ein.

Die mikrohistorische Datengrundlage vornehmlich des niederösterreichischen Ortes Theyern erlaubt den Autoren eine äußerst detaillierte und erschöpfende Rekonstruktion sämtlicher Kanäle und Relationen des energetischen und materiellen Austauschs, aber auch des Informationsflusses innerhalb der vorindustriellen Landwirtschaft. Allerdings lassen sich diese komplexen Energie- und Informationsflüsse im Modell nur als Momentaufnahme abbilden. Weder diachrone noch quantitative oder qualitative Veränderungen können damit eingefangen werden. Ebenfalls lassen sich die Sonderfälle mediterraner oder küstennaher Landwirtschaft mit dem Modell nur unzureichend erfassen, und die Autoren selbst schränken die Anwendbarkeit ihres Modells auf Mitteleuropa ein. Der Titel "Der soziale Metabolismus der vorindustriellen Landwirtschaft in Mitteleuropa" würde demnach der Reichweite des Bandes eher gerecht. Ungeachtet dieser Einschränkungen ist der hohe Abstraktionsgrad des Modells angesichts der kleinräumigen Unterschiede der Vegetation und demzufolge auch der landwirtschaftlichen Wirtschaftsweise in Mitteleuropa sinnvoll und erkenntnisfördernd. Das Modell gewinnt dadurch idealtypische Züge und seine Bedeutung für die Forschung besteht vor allem darin, den Blick für die zu berücksichtigenden Determinanten vorindustrieller Landwirtschaft zu schärfen und den Rahmen für weitere Einzeluntersuchungen abzustecken. Der Wert des Modells muss sich demnach in der weiteren Forschung erweisen. Allerdings dürfte das größte Problem neben den für derartige Studien zu überwindenden disziplinären Schranken in den meisten Fällen die für das vorstatistische Zeitalter nur lückenhaft vorhandene Quellenbasis darstellen.

Winiwarter und Sonnlechner stellen in ihrem Modell mit der Landwirtschaft den Hauptenergielieferanten in solarabhängigen Gesellschaften dar. Primärer Energiespeicher war Biomasse. Diesen Umstand nimmt der 3. Band der Reihe zum Ausgangspunkt, in dem Fridolin Krausmann im historischen Längsschnitt den Wandel des gesellschaftlichen Biomassenstoffwechsels seit 1830 am Beispiel Österreichs analysiert. Besonders aufschlussreich sind hierbei die Veränderungen im Gefolge des gesamtgesellschaftlichen Übergangs zur fossilen Energieversorgung, die es auch der Landwirtschaft historisch zum ersten Mal ermöglichte, über einen längeren Zeitraum nicht nachhaltig zu wirtschaften. Das größte Problem von Krausmanns amibitioniertem Unterfangen ist einmal mehr die Quellenbasis. Zwar liegen seit etwa 1830 österreichische Erntestatistiken vor, allerdings nicht für alle Territorien des gewählten Untersuchungsgebiets in gleicher Dichte. Viele Vermutungen und mehr oder weniger plausible Annahmen sind die Folge, beispielsweise im Bereich des Holzeinschlags und -verbrauchs im 19. Jahrhundert. Die hinter dem von Krausmann berechneten Energieumsatz stehenden Prozesse sind im Grunde bekannt. Die weitgehende Ablösung solarer Energie durch fossile Brennstoffe, erhöhter Düngereinsatz und Ertragssteigerung in der Landwirtschaft trotz verringerter Anbaufläche, die Kompensation der verminderten Brennholznachfrage durch den Holzbedarf von Papier- und Sägeindustrie: all das wird nun auch aus physikalisch-energetischer Perspektive quantitativ bestätigt.

So konnte durch Verbesserungen im vorindustriellen agrarischen Produktionssystem der landwirtschaftliche Flächenertrag zwischen 1830 und 1900 um die Hälfte, die Gesamtproduktion an landwirtschaftlicher Biomasse um 40% gesteigert werden. Dieser gemeinhin als Agrarrevolution bezeichnete Prozess erfuhr im 20. Jahrhundert noch eine Beschleunigung, indem der Flächenertrag zwischen 1900 und 1985 um weitere 150% wuchs und sich die Gesamtproduktion verdoppelte. Deutlich schlägt sich dabei in den entsprechenden grafischen Darstellungen die als "1950er-Syndrom" (Christian Pfister) bezeichnete Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Energiezirkulation nieder. Die Ertragsoptimierung mündete in eine grundlegende Transformation des sozialen Metabolismus. Indem der Energiestoffwechsel Österreichs um 1900 zunehmend auf eine fossile Basis gestellt wurde, konnten "mittels eines enormen energetischen Mehraufwandes" (Krausmann, 43) Flächenertrag und Gesamtproduktion an Biomasse deutlich gesteigert werden. Anders formuliert heißt dies allerdings, dass die Zuwächse in der Biomassenproduktion zu einer negativen Energiebilanz führten. Krausmanns Zahlen und Grafiken führen diesen Luxus drastisch vor Augen, den sich das gezwungenermaßen nachhaltige vorindustrielle System nicht leisten konnte.

Mit zeitlichen Abweichungen je nach Verlauf von Industrialisierung und Umstellung der Energiebasis war diese Entwicklung charakteristisch für alle europäischen Länder. Österreich stellt allerdings insofern einen Sonderfall dar, als durch die Brennholzfülle die vorhandenen fossilen Ressourcen vergleichsweise spät erschlossen wurden. Vergleichende Studien zu anderen, nicht alpinen und weniger waldreichen Ländern wären daher wünschenswert. Beide Studien bestätigen letztlich die von Sieferle im einleitenden Essay aufgestellte These eines europäischen Sonderwegs im gesellschaftlichen Energiestoffwechsel. Seit knapp zwei Jahrhunderten sind einige Zivilisationen der Welt in eine qualitativ neue Stufe der Energieversorgung eingetreten, wobei noch nicht abzuschätzen ist, ob damit schon ein neues System etabliert wurde oder ob diese Gesellschaften sich noch in einem Transformationsstadium befinden.

Zwei Punkte sind für die weiteren Bände wünschenswert: Einerseits sollten weniger sperrige Titel die Ergebnisse einer breiteren Leserschaft zugänglich machen. Andererseits ist angesichts des bisherigen österreichischen Schwerpunkts der Wiener Projektgruppe "Umweltgeschichte" zukünftig eine Europäisierung des Sonderwegs anzustreben. Auf jeden Fall ist mit den hier vorgestellten drei Arbeiten eine makrotheoretische Problemperspektive eröffnet, die für Erklärungsansätze aus sozialer, kultureller oder wirtschaftlicher Perspektive genügend Anknüpfungsmöglichkeiten bietet.


Rezension über:

Rolf Peter Sieferle: Europe's Special Course. Outline of a research program (= Der Europäische Sonderweg; Bd. 1), Stuttgart: Breuninger Stiftung 2001, 53 S., ISSN 1616-1602

Verena Winiwarter / Christoph Sonnlechner: Der soziale Metabolismus der vorindustriellen Landwirtschaft in Europa (= Der Europäische Sonderweg; Bd. 2), Stuttgart: Breuninger Stiftung 2001, 104 S., 2 Anhänge, ISSN 1616-1602

Fridolin Krausmann: Rekonstruktion der Entwicklung von Materialflüssen im Zuge der Industrialisierung: Veränderungen im sozioökonomischen Biomassenmetabolismus in Österreich 1830 bis 1998 (= Der Europäische Sonderweg; Bd. 3), Stuttgart: Breuninger Stiftung 2001, 75 S., 16 Abb., ISSN 1616-1602

Rezension von:
Bernhard Gißibl
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Gißibl: Der Europäische Sonderweg (Rezension), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 4 [15.04.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/04/1485.html


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