sehepunkte 2 (2002), Nr. 11

Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1936, hg. v. Dieter Wuttke

Ein "großer Mensch und Gelehrter", ein "Lehrer mit genialem Profil und Charisma", ein "klug bescheidener Mann", ein "sprachsensibler Gedächtnisriese", ein "Prophet", der "Einstein der Kunstgeschichtswissenschaft" - Erwin Panofsky gilt noch heute, da lässt Dieter Wuttke im Vorwort zur Ausgabe der Briefe keinen Zweifel aufkommen, als Lichtgestalt der deutschen Kunstgeschichte. Und es stimmt ja auch: Seine in eine dreistufige Tabelle handlich verpackte Methode ist eines der wenigen kanonischen Elemente der kunsthistorischen Ausbildung. Seine Schriften werden als Meilensteine der Disziplingeschichte gehandelt und noch immer ins Englische, Italienische, Französische oder Ungarische übersetzt oder umgekehrt, aus dem Englischen - wie erst kürzlich mit dem monumentalen Werk zur frühniederländischen Malerei geschehen - ins Deutsche übertragen. Eine Lichtgestalt also - aber hatte Panofsky eigentlich auch Fehler? Das ist vielleicht die einzige Frage, die auch nach intensiver Lektüre des 615 Briefe und einige beigefügte Dokumente starken, ersten Bandes der Briefausgabe der Imagination des Lesers (seiner "synthetischen Intuition", hätte Panofsky selbst gesagt) überlassen bleiben muss.

In Erscheinung treten dagegen alle anderen Facetten einer Persönlichkeit, deren Komplexität bisher so noch nicht wahrzunehmen gewesen ist. Aus der fernen, verschwommenen und irgendwie monolithischen Vorstellung vom "großen Gelehrten" wird ein greifbares Nahbild herangezoomt, das sich in die Rollen des bemühten Familienvaters, des zugewandten Ehemanns, des treuen Schülers und begeisterten Lehrers, des ambitionierten Universitätspolitikers, des solidarischen Kollegen zerlegen lässt. Sichtbar wird der jüdische und der deutsche, der ironische, der emotionale, der philosophische Panofsky, der liebenswürdige Charmeur und - Gott sei Dank - gelegentlich auch der scharfzüngig-boshafte Beobachter. Es kommt aber auch zu kuriosen, wenn nicht bedenklichen Enthüllungen - wenn etwa der junge Vater über die Geburt seines ersten Sohnes Hans berichtet: "Ich freue mich nun doch, daß es ein Junge ist und, ein formendes Wesen statt eines Geformten, ein Suchendes statt eines Wartenden, in sich selbst Ruhendes statt eines Sich-Anlehnenden werden kann" (56). Wie sich seine eigene Formierung zu einem formenden Wesen vollzog, lässt sich anhand der hier präsentierten Briefauswahl eigentlich nicht nachvollziehen. Panofsky ist, als der Briefwechsel richtig einsetzt, schon "fertig". Seine Dissertation hat ihm einen Preis eingebracht, er korrespondiert schon mal auf Latein, er schaltet sich selbstbewusst in wissenschaftliche Streitgespräche ein, und selbst seine Briefe an die Zukünftige, Dora Mosse, sind weniger Herzensergüsse als gelehrte philosophische Abhandlungen, deren Stringenz noch heute zu beeindrucken vermag (23-25) - ebenso wie die kontinuierliche Transformation intensiver musikalischer (Mozart) und literarischer Erlebnisse in das Medium der Sprache.

Ausführlich dokumentiert ist die wichtige Lebensphase, die mit Panofskys Berufung nach Hamburg beginnt - dessen grundsätzlich unakademisches Publikum ihn anfangs beunruhigt: "[...] nur wird es einem, glaube ich, in diesem Milieu immer rätselhafter werden, daß es Leute giebt, die andauernd Bücher über Proportionslehre u.s.w. schreiben, und daß man selber dazugehört." (76 f.). Das Verhältnis zu Aby Warburg dagegen war weniger harmonisch, als es Vorwort und Briefe glauben machen möchten; wissenschaftliche Differenzen des sich selbst ja grundsätzlich als methodischen "Eklektiker" bezeichnenden Panofsky zu Warburgs psycho-historischem Ansatz sind inzwischen vielfach en détail nachgewiesen worden und lassen sich schon dem Umstand entnehmen, dass allein Fritz Saxl für eine Berufung Panofskys in das Kuratorium der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek plädierte, während Warburg selbst, aber auch Gertrud Bing sich nachdrücklich dagegen aussprachen [1].

Gerade an den die Phase der Ablösung von Deutschland und des Neubeginns in den USA begleitenden Briefen wird deutlich, was eine Korrespondenzausgabe für die Beantwortung der Rankeschen Frage, "wie es eigentlich gewesen", zu leisten vermag. Nur im Spiegel der mal mehr, mal weniger persönlichen, in kurzen Abständen aufeinander folgenden und die Entwicklung sowohl der äußeren Lage als auch der inneren Verfassung dokumentierenden Berichte, Bemerkungen und Kommentare lässt sich ermessen, was das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" auf der Ebene des persönlichen Erlebens bedeutete. Die politische Wirklichkeit hat Panofsky realistisch eingeschätzt: "Universitätspolitisch versuche ich," so schreibt er im Juni 1932 an seine Schülerin Adelheid Heimann (509), "eine von vornherein verlorene Schachpartie möglichst anständig zu Ende zu spielen. Im Dritten Reich bin ich sicher der erste, der "will be fired". Freuen wir uns aufs vierte!"

Und dennoch trifft es Panofsky genauso wie den heutigen Leser, als seine Prophezeiung ein Jahr später eintritt. Zwar wahrt er die aus einer grundsätzlich distanzierten Haltung gewonnene Contenance. Und dennoch sieht auch er sich durch die Entwürdigung, durch die Loyalitätsbekundungen von Kollegen (die vielfach selbst kurze Zeit später Opfer der nationalsozialistischen Politik werden sollten), durch die Solidarität auch von Nicht-Juden, aber auch durch die ganz praktische Sorge um den Lebensunterhalt für die Familie, in eine Identitätskrise gestürzt, die ihn die Inhalte von Begriffen wie "deutsch" und "jüdisch", von "gentile" und "homines nostrae fidei", von "Europa im allgemeinen", von "Fremde" und "Unsicherheit" neu überdenken lässt: [...] "ich, und viele meinesgleichen, bin wirklich mit Deutschland, und besonders mit dem deutschesten Deutschland, wie es sich für mich in Ihnen [...] verkörpert, so tief verwachsen, daß eine Trennung sehr ans Leben gehen würde, nicht nur im Sinne der 'Kultur' [...], sondern gerade auch im Sinne des Gefühls." (Brief an Gustav Pauli vom 12.4.1933, 584)

Wohl nur derjenige, der sich selbst einmal dem mühseligen Editions-Geschäft unterzogen hat, ist in der Lage, die Leistung zu würdigen, die Wuttke mit seinem dem Briefwechsel beigefügten Apparat vollbracht hat. Kurzbiografien erläutern sämtliche - bis hin zu dem nur vornämlich bekannten "August", Freund von Panofskys Haushälterin Berta Ziegenhagen - in der Korrespondenz genannten Namen; dass sie "gelegentlich mit erheblichem Aufwand recherchiert" werden mussten, möchte man dem Autor gerne glauben. Dazu ist das ganze Buch durch ein Namens- und Sachregister, aber auch jedes Dokument noch einmal durch Fußnoten erschlossen. Sie beantworten mit phänomenaler Genauigkeit jede Frage, die sich beim Lesen stellt, sie liefern Hintergrundwissen und Querverweise zu anderen, zeitlich entfernten Briefen, und sie helfen, etwa wenn Paganini als "italienischer Geigenvirtuose" (445) identifiziert wird, gelegentlich der allgemein schwindenden Bildung auf. Bei so viel Sinn für das Detail verengt sich momentweise auch der eigene Blick aufs Mikrohistorische, und so sei es der Rezensentin erlaubt, im Dienste der Vollständigkeit einige Hamburgensien beizutragen: So muss es sich bei der in einem an Gustav Pauli gerichteten Gedicht genannten "Märlin"-Bar (380) um einen Lesefehler handeln, denn Panofsky, dem guten Leben nicht abgeneigt, war das im Hotel Vier Jahreszeiten gelegene und nach dessen Besitzer Friedrich (Fritz) Haerlin benannte Etablissement, wie auch aus anderen Erwähnungen hervorgeht, wohl bekannt. Bei der als "stehender Student mit Schillerkragen unbekannt" angesprochenen Person auf einem Foto, das Panofsky mit seinen Hamburger Studenten zeigt (366), handelt es sich um die von William Heckscher und anderen so identifizierte Helen Rosenau - in einer mit Jabot geschmückten Bluse. Walter Horns Rigorosum fand am 14. Juli 1933 statt, und zwar in der Privatwohnung seines damals schon beurlaubten Doktorvaters (625).

Von Petitessen wie diesen ganz abgesehen: "He steps out of the pages of history as a figure surprisingly alive", stellte Panosfky bei seinem Versuch fest, das Leben von Abt Suger aus den Schriftquellen zu rekonstruieren. Das gleiche gilt für ihn.

Anmerkung:

[1] Tagebuch der K.B.W., S. 64, 8.3.1927


Rezension über:

Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1936, hg. v. Dieter Wuttke (= Erwin Panofsky. Korrespondenz 1910 bis 1968. Eine kommentierte Auswahl in fünf Bänden; Bd. 1), Wiesbaden: Harrassowitz 2001, LIV + 1142 S., 65 Abb., ISBN 978-3-447-04448-6, EUR 180,00

Rezension von:
Karen Michels
Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Karen Michels: Rezension von: Erwin Panofsky: Korrespondenz 1910 bis 1936, hg. v. Dieter Wuttke, Wiesbaden: Harrassowitz 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 11 [15.11.2002], URL: https://www.sehepunkte.de/2002/11/3488.html


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