sehepunkte 2 (2002), Nr. 5

Anja Johann: Kontrolle mit Konsens

Die Entstehung der Moderne zählt zu den zentralen Problemen der historischen Frühneuzeitforschung. Der Verdichtungsprozess der Gesellschaft, die Bevölkerungszunahme seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der Zerfall der feudalen Ordnung in konkurrierende Herrschaften und das Entstehen neuer Machtzentren in den Städten schufen Probleme, die mit traditionellen Mitteln der feudalen Gesellschaft nicht mehr zu lösen waren. Die Reformation gilt als ein wichtiger Motor in diesem Prozess, denn ihre Wirkungsgeschichte ist eingebunden in den Formierungsprozess der neuzeitlichen Gesellschaft.

Als Leitkonzept für die Erklärung gesellschaftlichen Wandels hat sich in der historischen Forschung der durch Gerhard Oestreich 1968 geprägte Ansatz der Sozialdisziplinierung etabliert. In der Auseinandersetzung mit der älteren Absolutismusforschung beschrieb Oestreich mit dem Begriff der Sozialdisziplinierung die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen des Absolutismus und damit Ziel und Praxis frühneuzeitlicher Herrschaftsausübung.

Das von Gerhard Oestreich entworfene Forschungsparadigma ist jedoch, so die Autorin zutreffend, in die Jahre gekommen und wurde von Vertretern kulturwissenschaftlicher und anthropologischer Forschung in jüngster Zeit immer wieder in Frage gestellt. Hauptkritikpunkt war und blieb der auf die Entstehung des modernen Staates und damit obrigkeitlich orientierte Ansatz des Konzeptes, der eine linear steigende Regelungsdichte und damit einhergehend die Ausdehnung der dem staatlichen Zugriff unterworfenen Lebensverhältnisse voraussetze.

Zentrales Anliegen der Autorin ist es dennoch, das "sieche Konzept" der Sozialdisziplinierung (11) am Beispiel der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert auf seine Brauchbarkeit zu überprüfen. Anja Johann nimmt die Kritik am Konzept jedoch ernst, indem sie eine Modifikation des Begriffes vornimmt und unter Sozialdisziplinierung "die Maßnahmen einer frühmodernen Gesellschaft" versteht, "durch die eine Rationalisierung der administrativen Ordnung und ein Wandel moralischer Normvorstellungen des Individuums angestrebt wurden"(17). Oberstes Ziel war die Sicherung des Gemeinwesens und des städtischen Friedens mittels einer effizienteren und rationaleren Gestaltung von Politik und Gesellschaft durch die Intensivierung obrigkeitlicher Herrschaft. Die Disziplinierung der Gesellschaft sei jedoch nur ein Element, das noch nichts darüber aussagt, wie Herrschaft umgesetzt und gestaltet wurde. Daher nimmt die Autorin auch das Verhalten und die Reaktion der Bevölkerung in den Blick und erweitert ihren Ansatz durch das von Klaus Schreiner und Ulrich Meier entworfene Konzept der "konsensgestützten Herrschaft". Herrschaft wird hier verstanden als ein von der Obrigkeit gesteuerter und gestalteter, aber zugleich grundsätzlich von der Gesamtgesellschaft getragener und geförderter Prozess (18).

Frankfurt am Main war im 16. Jahrhundert eine Stadt der Fremden. Das Aufeinandertreffen verschiedener Wirtschafts- und Glaubensvorstellungen, die der Zustrom von Kalvinisten, Juden und "los Gesindlin" aus dem Umland mit sich brachte, bildete das Spannungsfeld, in dem der Rat zur Aufrechterhaltung des städtischen Friedens vermittelnd und regelnd eingriff (45). Nach einer fundierten Einführung in die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Mainmetropole (Kapitel 2) gliedert sich die Arbeit in drei Hauptkapitel, in denen nach jenen Faktoren gefragt wird, die als Sozialdisziplinierung im Sinne der Autorin beschrieben werden können: Die Rationalisierung und Institutionalisierung des städtischen Rechtswesens, das heißt die Rezeption des Römischen Rechts und die Rationalisierung des Rechtssystems (Kapitel 3); der Konfessionswechsel in Frankfurt und die lutherische Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Kapitel 5) sowie die Policeygesetzgebung und deren Umsetzung im Alltag der Stadt (Kapitel 6).

Während die Rezeption des Römischen Rechts als ein von der Obrigkeit initiierter und gesteuerter Prozess analysiert wird, erfolgte der Konfessionswechsel in Frankfurt auf Druck der Bevölkerung. Nach dem Übertritt zur evangelischen Lehre weitete der Rat seinen weltlichen Herrschaftsanspruch konsequent auf kirchliche Bereiche aus. Die Institutionalisierung der Disziplin im Rahmen der Armenfürsorge, des Bildungswesens, der Sitten- und Kirchenzucht sowie der Eherechtsprechung werden detailliert als Interaktionsprozess zwischen Rat, Handwerk und Gesamtbürgerschaft beschrieben. Insbesondere die Umorganisation der Armenfürsorge hin zu einer obrigkeitlichen Institution ermöglichte schließlich eine verstärkte Kontrolle - und zwar vornehmlich der unteren Gesellschaftsschichten (117).

Wesentliches Instrument der Sozialdisziplinierung war schließlich die Policeygesetzgebung. Der Verweis auf die Gottesstrafe bei Missachtung der von Gott gesetzten Obrigkeit bildete nach Auffassung der Autorin die wichtigste Klammer zwischen rechtsetzender Obrigkeit und Bevölkerung. Die Drohung eines göttlichen Strafgerichts in Form von Krankheit und Not für das gesamte Gemeinwesen und das Individuum verschaffte, so die These, eine breite Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung, weshalb das Delikt der Gotteslästerung folgerichtig an erster Stelle der Policeyordnungen genannt wurde, bedeutete doch die Lästerung Gottes die Infragestellung der gottgewollten Ordnung überhaupt (181).

In anderen Regelungsbereichen wie etwa der Reglementierung des Aufwands bei Kleidung und Festen fiel die Konsensbereitschaft weniger deutlich aus. Hier stieß der Rat häufiger auf Widerstand (195). Der Prozess der Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt, so das Ergebnis, wird als Begleitumstand einer Verfestigung und Intensivierung der städtischen Herrschafts- und Verwaltungsstruktur gewertet. Überwiegend vom Rat und seinen Funktionsträgern vorangetrieben, basierte er, so das Ergebnis der Studie, auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens der bürgerlichen Schichten, die bereitwillig bei der Verfolgung nonkonformen Verhaltens mitgewirkten (258f.).

Mit ihrer gut lesbaren Untersuchung (der häufig benutzte Einschub 'wie bereits erwähnt' ist zuweilen etwas störend) betritt Anja Johann methodisch und inhaltlich Neuland. Insbesondere das Kapitel über den Konfessionswechsel in Frankfurt überzeugt, weil es der Autorin gelingt, in den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung die reichspolitischen und innerstädtischen Entwicklungen aufzuzeigen und innovativ mit ihrem Forschungsansatz zu verbinden. Sie zeigt damit, dass das Konzept der Sozialdisziplinierung (in Erweiterung) durchaus noch immer Attraktivität für die Erforschung gesellschaftlichen Wandels besitzt. Anthropologische und kulturwissenschaftliche Ansätze sind jedoch eine Bereicherung, da sie den Blick auf die Brüche lenken und das obrigkeitlich fixierte Forschungskonzept aufbrechen.

Auf die neuere Forschungslage und neuere Erkenntnisse etwa aus der kriminalhistorischen Forschung wird bedauerlicherweise nicht näher eingegangen. Die Autorin versucht, die verschiedenen Forschungsansätze zum Tragen zu bringen, wenngleich die obrigkeitliche Perspektive klar überwiegt. Die verschiedenen Disziplinierungsfaktoren und -institutionen wie etwa die Einführung neuer Gerichtsinstanzen oder aber die Disziplinierung der Bevölkerung mittels Policeyordnungen werden als positive Entwicklung zur Bewältigung gesellschaftlicher, konfessioneller und sozialer Probleme beschrieben. Ob die Bürger jedoch tatsächlich die Bestrafung von Unruhestiftern und "die Statuierung eines Exempels zur Abschreckung für andere Querulanten" forderten (253), bleibt eher zweifelhaft. Dazu erfährt der Leser zu wenig über die Hintergründe und die Motive von Konflikten sowie die Herkunft der Betroffenen. Der Gang vor die Gerichte war, das haben zahlreiche Untersuchungen zur vormodernen Strafpraxis gezeigt, eine Möglichkeit der Konfliktlösung und diente weniger der Disziplinierung eines Kontrahenten und der Aufrechterhaltung einer bestimmten Ordnungsvorstellung, sondern der Durchsetzung eines spezifischen Rechtsanspruches. In der Lesart der Autorin werden die Betroffenen vorschnell zu Instrumenten obrigkeitlicher Machtentfaltung.

Der von der Autorin skizzierte 'Eigen-Sinn' der Bürger (214) kommt eher selten zu Wort. Gerade sie konnten auf niedergerichtlicher Ebene durch die Institution der Fürbitte auf Strafmilderung hoffen - Manfred Groten hat diese gängige Rechtspraxis als 'Herrschaft im Dialog' bezeichnet -, während Fremde besonders von entehrenden Strafen und von Todesurteilen bedroht waren. Hier ließe sich auch für Frankfurt im 16. Jahrhundert die Kehrseite der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtspraxis zeigen: Menschen, die durch kein soziales Netz gehalten wurden, waren dem obrigkeitlichen Zugriff schutzlos ausgeliefert. Es sind die Brüche und Widersprüche, die das Konzept der Sozialdisziplinierung (in Erweiterung) noch immer reizvoll machen für die Erforschung gesellschaftlichen Wandels. Hier hätte die Autorin Oestreichs 'siecher' Konzeption am Frankfurter Material zu neuem Glanz oder, um im Bilde der Autorin zu bleiben, tatsächlich zu neuer 'Jugend' verhelfen können.


Rezension über:

Anja Johann: Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert (= Studien zur Frankfurter Geschichte; 46), Frankfurt/Main: Waldemar Kramer 2001, 292 S., 6 farb., 13 einfarb. Abb., ISBN 978-3-7829-0521-3, EUR 29,80

Rezension von:
Andrea Bendlage
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Bendlage: Rezension von: Anja Johann: Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Waldemar Kramer 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 5 [15.05.2002], URL: https://www.sehepunkte.de/2002/05/2970.html


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